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Es regnet zu stark, und die trockene Stelle unter dem überstehenden Dach der Kapelle
ist zu verlockend, um Pauls Sinn für Pietät aufrechtzuerhalten. Wir drücken uns an die
Hauswand und packen die Einkäufe aus. »Ich habe dieses Kümmelbrot noch nie ge-
mocht, aber ich finde es gerade extrem geil.« Pauls Augen leuchten mich über einem
großen, gelbgoldenen Laib Weißbrot hinweg an, von dem er genüsslich ein dickes Stück
abbeißt. Vielleicht schmeckt er sogar noch ein bisschen besser, weil man sich nirgends
lebendiger fühlt als auf einem Friedhof. Aber psssst!
Gestärkt von der Mittagspause fahren wir noch eine ganze Weile weiter durch den
dichten Regenvorhang. Seit ein paar Stunden schauen wir kaum noch auf die Straße,
sondern haben unsere Augen fest auf dem Display des digitalen Tachos fixiert. Als die
Zahl auf Tausend umspringt, fängt Paul an zu schreien.
»Tausend!!!«
Und ich rufe zurück: »Aller guten Dinge sind drei- … zehn!!!«
Wir müssen nur noch das 13-Fache schaffen, und dann sind wir da.
PAPIERE, PAPIERE / 19. APRIL / UTENA
PAUL
Unser unabsichtliches Eindringen nach Russland war ganz bestimmt das Aufregendste,
was uns in der letzten Woche passiert ist, aber es sollte nicht ganz ohne Nervenkitzel
weitergehen: Unser Russland-Visum wurde um ganze zehn Tage gekürzt. Das galt nicht
uns persönlich, sondern es handelt sich um eine neue Regel: »Visa für mehr als 21 Tage
werden nicht länger gewährt, wenn die beantragende Person keinen Reiseplan mit Ho-
telbuchungen vorlegen kann.« So fehlen uns zehn Tage auf unserer Fahrt durch Russ-
land, für die wir eigentlich dreißig Tage berechnet hatten. Und das ist nicht alles: Als wir
nach einem 143-Kilometer-Tag von Litauen aus die Grenze nach Lettland überquert hat-
ten und wirklich keinen Zentimeter mehr gegen den nicht enden wollenden Regen an-
fahren konnten, checkten wir notgedrungen in einem heruntergekommen Trucker-Stun-
denhotel ein und mussten dort feststellen, dass unsere Ausweise weg waren. Weg!
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