Travel Reference
In-Depth Information
»Ja, stimmt, das dachte ich heimlich auch, aber der Grenzpolizist hat mir ins Gewis-
sen geredet. Er meint, wenn irgendwas davon jemals gezeigt werden sollte und die Rus-
sen kriegen das mit, ist er seinen Job los.«
»Dann lass es uns jetzt direkt überschreiben«, sage ich und halte die Kamera auf Pauls
noch immer etwas blasses Gesicht. »Zumindest eine gute Geschichte, oder?«
»Schon, aber ein bisschen zu teuer für meinen Geschmack.«
Ehrlich gesagt war ich ziemlich froh, Polen zu verlassen. Ich weiß, man sollte nicht
von ein paar Eindrücken auf eine ganzes Land schließen, aber so ist das eben beim Rei-
sen, man schreibt ständig an einem imaginären Reiseführer und erklärt sich die Welt in
übersichtlichen Schubladen. Es ist ganz subjektiv, aber ich muss es trotzdem loswerden.
Ich verstehe die polnische Logik nicht! Einerseits sind sie superkorrekt und man wird
nachts von Polizisten verjagt, weil man im Wald nicht zelten darf, andererseits lassen sie
gerade dann Fünfe gerade sein, wenn es absolut keinen Sinn ergibt. Warndreiecke bei ei-
nem Unfall aufzustellen würde zum Beispiel niemandem einfallen. Andererseits über-
quert noch nicht einmal ein Punk bei Rot die Ampel. Ich werde nicht schlau aus diesem
Land. Ich hatte das Gefühl, keiner spricht hier mit Fremden, es sei denn, sie sind selbst
Fremde. Aber wahrscheinlich lag es einfach daran, dass wir zwei unrasierte und unge-
waschene Radfahrer waren.
Am nächsten Tag überqueren wir die richtige Grenze. Das Bild vor meinen Augen könn-
te trister nicht sein, und trotzdem kann es unserer Laune nicht das Geringste anhaben:
fünf Grad Außentemperatur, eine graue, verregnete Straße, vorbeidüsende klapprige Las-
ter, und dort hinten ein blaues Schild, das hinter dem Regenvorhang kaum zu entziffern
ist. Als Paul, der 100 Meter vor mir radelt, daran vorbeifährt, wirft er dem Schild eine
Kusshand zu. Die orangefarbenen Regenüberzüge seiner Fahrradtaschen leuchten durch
den Regenvorhang. Jetzt erkenne auch ich den EU -Sternenkranz auf dem Schild. Endlich
Litauen. Das richtige Litauen. Zeit, eine Pause zu machen.
»Paul! … Pau---el! Lass uns irgendwo Mittagspause machen. Wie wär's mit dem klei-
nen Häuschen da?«, frage ich.
»Das ist eine Friedhofskapelle, du Hirni, da kann man nicht einfach 'ne Jause einle-
gen.«
»Und warum nicht? Meinst du, die Toten stören sich an ein bisschen Gesellschaft?«
Search WWH ::




Custom Search