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Manchmal träume ich, dass ich ja nur träume, mich aber trotzdem in Berlin befinde.
Aber es wird immer schwieriger, im Traum die Kurve zu kriegen und zu erkennen, dass
ich noch gar nicht in Shanghai war, sondern noch viel Zeit habe. Wenn ich wach werde,
versuche ich, mir immer klarzumachen, dass es bei dieser Tour nicht darum geht, be-
stimmte Dinge zu erreichen, Rekorde zu brechen, Abenteuer zu erleben, weise und er-
wachsener zu werden. Sie ist ein Weg. Ein Radweg von Berlin nach Shanghai, Zeit mit
meinem Bruder, so viel Zeit, wie wir sie vielleicht nie wieder am Stück zusammen ver-
bringen werden … da! Da ist es erneut … dieses: vielleicht nie wieder! Ich ertappe mich
mehrfach dabei, mich davor zu fürchten, die Zeit nicht genutzt zu haben, die Dinge
nicht intensiv genug in mich aufgenommen zu haben. Wir haben die tollsten Dinge er-
lebt. Wie oft habe ich mich selbst sagen hören: »Wenn es das jetzt gewesen wäre, hätte
sich die Tour schon gelohnt!« Warum glaube ich meinem eigenen Empfinden nicht
mehr? Das ist es doch, was dieser Traum mir weismachen will …
Vielleicht ist es das schleichende Ende, dass wir hier gerade erleben, statt des bombas-
tischen Finales in Shanghai, das wir uns ganz naiv ausgemalt hatten - vielleicht einfach
nur der Wunsch, endlich da zu sein, oder das Gegenteil davon: die Angst, wirklich anzu-
kommen? Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden, und mein Gefühl sagt mir,
ich bin schlauer, wenn ich erst in Shanghai bin.
Verdammt. Es ist der 6. Oktober! - Es ist genau sechs Monate her, dass wir in Berlin
aufs Rad gestiegen und ganze 25 Kilometer bis zum Müggelsee gefahren sind, um dort
Abschied zu feiern. Um Punkt 14 Uhr sind wir in der Friedelstraße aufgebrochen, und
jetzt, 11300 Kilometer weiter, in China, fast auf der anderen Seite der Welt und so kurz
vor unserem Ziel, von dem ich selber zwischendrin so oft dachte, wir würden es nie er-
reichen. Nicht, weil es aussichtslos gewesen wäre, nein, hauptsächlich, weil wir in den
meisten Situationen noch so viel vor uns hatten, obwohl wir bereits so viel hinter uns
hatten. Die Tour schien endlos, und trotzdem sind wir immer weitergefahren, haben
täglich unsere mindestens 100 Kilometer gemacht und sind unterwegs gewesen durch
Dauerregen und Kälte in Russland, die Einöde in Kasachstan mit knapp 50 Grad im
Schatten, durch Kirgisistan mit Fieber, durch die Wüste und ihre Sandstürme, durch den
Himalaja über unzählbare Pässe auf Höhen von über 5200 Metern, immer weiter, Kilo-
meter für Kilometer habe ich meinen Tacho angeschaut und die Zahl langsam von 0 auf
11300 zählen sehen. Ich bin stolz auf mich und auf meinen Bruder. Wir sind zusam-
mengewachsen, zusammen gewachsen und haben uns differenziert bzw. gelernt, mit
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