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möglich, ein Zelt aufzuschlagen. Es lohnt sich nicht mehr zu kochen, denn ein Essen
kostet 50 Cent, dafür kann ich nicht mal einkaufen!
Erst dachte ich, die Wüste sei der anstrengendste Teil der Tour, dann, als die Pässe
nicht mehr aufhören wollten, die Berge … Jetzt weiß ich, es wird diese letzte Strecke
von Chengdu nach Shanghai sein, bei der sich jeder Kilometer so anfühlt, als sei eigent-
lich alles schon vorbei. Wir sprechen nicht darüber, vielleicht, weil es keiner von uns
beiden laut aussprechen will. Aber wir fühlen das Gleiche, ich weiß es. Wir sind gereizt,
alles nervt. Wir streiten uns wieder über Kleinigkeiten. Die Wege sind schlecht, weil
man mit dem Auto die Autobahn nutzt, die wir nicht befahren dürfen, und die alten
Straßen zerfallen sind. Mir kommt es vor, als könne ich Shanghai schon riechen, aber die
Kilometer wollen nicht enden. Ich kenne diesen Effekt von anderen Touren - die letzten
Kilometer sind die längsten, aber dass es diesmal so früh anfängt, macht es schwer, rich-
tig schwer, durchzuhalten. Alle Highlights sind vorüber, das letzte ist lediglich aus defi-
niertem Selbstzweck eines: das Ziel. Es ist eine Ankunft, die sich derart zäh in die Länge
zieht, dass es einfach nur noch deprimierend ist.
Wir stehen jeden Tag früh auf, um so schnell wie möglich so viele Kilometer wie
möglich hinter uns zu bringen. Die Landschaft könnte schön sein, wenn sie nicht so
gnadenlos vermüllt wäre. Sanfte, mit Bambuswäldern überwucherte Hügel, die Straße
schlängelt sich vorbei an kleinen, halb fertigen Häusern, in den Reisfeldern grasen riesi-
ge Wasserbüffel, und ab und an taucht man in undurchdringlichen Dschungel ein, in
dem auch bei dem hier seltenen Sonnenschein das Wasser von den Bäumen trieft.
Schlimmer als die Tage sind die Nächte, in denen mich ein Traum immer und immer
wieder heimsucht. In diesem Traum bin ich zurück in Berlin, die Tour liegt hinter mir,
aber ich fühle mich leer und bin unzufrieden. Das soll's gewesen sein?, frage ich mich,
und ein sehr unbefriedigendes Gefühl durchschaudert mich. Ein Gefühl, nicht das Beste
daraus gemacht zu haben, etwas verpasst zu haben - irgendwas, irgendetwas sehr Wich-
tiges fehlt noch. Je unerträglicher das Gefühl wird, desto mehr realisiere ich, dass ich ja
nur für einen kurzen Abstecher zurück in Berlin bin und noch weiterfahren muss, weil
ich noch gar nicht in Shanghai war. »Ich muss jetzt zurück, nach Shanghai reinfahren«,
habe ich schon öfter gesagt, als ob das Erreichen dieses geografischen Ziels die Erfüllung
aller Erwartungen der Tour mit sich bringen würde. Im Traum ist es ein beruhigendes
Gefühl zu wissen, dass es noch nicht vorbei ist. Aber je öfter ich den Traum träume, je
näher ich im echten Leben dem Ziel Shanghai komme, desto verzwickter wird es.
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