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ALBTRÄUME / 6. OKTOBER / SUINING
PAUL
Am 1. Oktober fahren wir früh los und dümpeln, noch immer enttäuscht wegen des Er-
eignisses der letzten Nacht, durch die Stadt. Wir kaufen ein und schaffen es danach nur
wenige Kilometer aus dem bewohnten Gebiet um Chengdu heraus. Zum ersten Mal seit
einer gefühlten Ewigkeit schlagen wir unser Zelt auf. Müde verkriechen wir uns, essen
das erste Baguette seit Moskau und gehen schlafen. Ob es an der neuen Isomatte liegt, an
dem ungewohnten Abendessen oder den Erlebnissen der letzten Tage, ich schlafe jeden-
falls die ganze Nacht nicht, und erst, als um fünf Uhr der Wecker klingelt, werde ich
todmüde. Wir verschieben unseren für heute geplanten frühen Aufbruch und schlafen
weiter bis sieben, stehen auf, befreien das Zelt von unzähligen Nacktschnecken und
frühstücken unter einem Nussbaum mit Blick über das verregnete, vernebelte Tal. Es tut
gut, raus zu sein aus der Stadt.
Wir sind raus, aber es dauert nicht lange, da fahren wir wieder hinein. Kaum franst
die eine Stadt aus, fängt die nächste an. Es ist nicht länger zu leugnen: Wir sind raus aus
den Bergen, raus aus der Wüste, raus aus der Steppe, zurück in der Zivilisation. Obwohl
wir fast 12000 Kilometer von unserem Start entfernt sind, wird es hier im Osten lang-
sam westlicher. Wahrscheinlich bei Weitem nicht so sehr, wie es sich anfühlt, aber die
geliebte Einsamkeit abseits der Zivilisation, die endlose Weite der Berge, der Wüste, alles
das hat sich schlagartig verabschiedet. Von jetzt an ist China ein einziges riesiges Dorf. Es
gibt keine wilde Natur mehr, sondern ein Reisfeld neben dem anderen, und die einzigen
trockenen Stellen dazwischen sind mit Häusern gepflastert. Zwei Tage hintereinander
mussten wir schon in Hotels absteigen, die zwar spottbillig sind, aber ich vermisse das
Zelten. Es ist anstrengend, nach einem langen Radtag den Hotelbesitzern mühselig zu er-
klären, dass man ein Zimmer für zwei Personen braucht, zu fragen, was es kostet, ob
man die Räder mit aufs Zimmer nehmen kann und immer wieder zu verdeutlichen, dass
man Chinesisch weder lesen noch schreiben kann. Die in wenigen Worten erzählte
Kurzversion unserer Tour muss unglaublich langweilig und genervt klingen, dabei ist es
das Erlebnis meines Lebens. So entspannt es war, sich abends ins Zelt zu legen und Ruhe
zu haben, so deprimierend sind die muffigen Hotelzimmer. Aber was tun? Jede freie
Stelle ist bepflanzt, bebaut, der Rest ist Abhang oder mit Urwald überwuchert: völlig un-
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