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Keine fünf Minuten später ist er auf dem Klo. Die ganze Nacht versucht er, die Pizza
loszuwerden, und am nächsten Morgen geht es ihm noch immer nicht viel besser.
»Hansen, bleib du liegen, ich krieg das auch alleine hin mit dem Visa Office«, sage ich
und laufe los. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, und ich habe das Pech, im einzigen Fo-
todruckladen der Stadt zu landen, dem genau bei meinen Ausdrucken die Kartuschen
leergehen. Mit einer Seelenruhe und gelegentlichem Online-Chat zwischendrin wechselt
die höchstens zwölfjährige, Hubba-Bubba-kauende Verkäuferin die Kartuschen. Fast eine
Stunde nach neun Uhr komme ich im Public Security Bureau an. Die Polizistin winkt
mich zu ihr, und ich übergebe ihr die Unterlagen . »Where is your Brother?« , fragt sie. »He's
sick« , antworte ich bedauernd. Sie hat heute schlechte Laune, das ist ganz offensichtlich.
Sie beanstandet meine Passfotos, und als ich wage zu fragen, warum, sagt sie: »Because I
said so!« Es hilft alles nichts: »Your brother must come here, his photo not okay!« , verlangt sie. Ich
muss Hansen aus dem Bett klingeln, und er schleppt sich zu dem Visa Office. Dort lassen
wir für teures Geld weitere Passfotos nach dem gewünschten Standard anfertigen. Als
wir endlich die Unterlagen abgegeben haben und alles zu ihrer Zufriedenheit ist, nimmt
Hansen sich ein Taxi ins Hostel, und ich laufe in der Stadt umher und erledige ein paar
Dinge.
Auf meinen ursprünglichen, im gestrigen Schock gefassten Plan mir als Erstes Schuhe
und Hose zu kaufen, verzichte ich. Nahrung und alles andere bekomme ich auch als
Penner, solange ich bezahlen kann. Als ich in einen Sony-Laden gehe, um im Auftrag der
uns begleitenden Filmproduktion einen Ersatz für die beim Sturz lädierte und sündhaft
teure Filmkamera zu kaufen, spiele ich die Situation voll aus. Wohl wissend, dass ich mit
meiner äußeren Erscheinung hier direkt als mittelloser Zeitgenosse abgestempelt werde,
laufe ich rein, zeige zielstrebig auf die Kamera und blättere die eben am Automaten ab-
gehobenen 50100-Yuan-Noten auf den Tisch, ohne mir die Kamera genauer anzuschau-
en. Auf dem Weg hinaus lasse ich einen ganzen Pulk verdutzt schauender Verkäufer zu-
rück, die am Anfang noch gezögert hatten, mir das Ding überhaupt aus dem Schrank zu
holen. Schritt für Schritt nehme ich die Atmosphäre der Stadt in mich auf, und bald hat
die erste große Stadt seit Moskau mich für sich eingenommen. Überall laufen unifor-
mierte Kinder herum, teils in Camouflage, teils in Schuluniform, und immer im Gänse-
marsch, manchmal kilometerlange Reihen auf dem Weg zum Sportplatz, wo sie, von
unserem Zimmer perfekt zu beobachten, den ganzen Tag von wiederum uniformierten
Soldaten gedrillt werden. In quadratischen und penibel angeordneten Regimenten wer-
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