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Abend, als wir noch mit ein paar Freunden und unserer Mutter in der Bellman Bar auf
unseren Geburtstag angestoßen haben, haben uns alle mit Schrecken begutachtet: »Ihr
seht ja schon jetzt aus wie lebendige Leichen, wie wollt ihr euch denn morgen über-
haupt aufs Rad setzen?«, hat unsere Freundin Agatha uns gefragt. »Keine Ahnung, aber
die 25 Kilometer bis zum Müggelsee werden wir schon irgendwie schaffen!«, haben wir
geantwortet.
Das Lagerfeuer prasselt gemütlich vor sich hin. Ich drehe vorsichtig mein Stockbrot über
der Glut. Es ist 23 Uhr nachts, noch eine Stunde, dann geht unser dreißigster Geburtstag
und der erste Tag der Tour zu Ende. Paul und ich sitzen mit einer Hand voll Freunden
am kleinen Müggelsee. Sogar zwei Unbekannte, die auf die Einladung auf unserem Blog
gestoßen sind, haben es zu der Grillstelle geschafft. Es wird gelacht, getrunken, gegrillt
und ein Spiel gespielt, das ich zuletzt in der Schule gemacht habe: Flaschendrehen,
»Wahrheit oder Pflicht«. Immer wieder schaue ich erst in die lachenden, vom Feuer an-
geleuchteten Gesichter meiner Freunde und dann zu Paul, der mir gegenübersitzt.
Manchmal treffen sich unsere Blicke, und ein stummes Nicken bestätigt unseren Gedan-
kengleichschritt. Marei, eine alte Schulfreundin, bemerkt meine Abwesenheit und drückt
frech mein Stockbrot ins Feuer, reißt mich so aus meinen Tagträumen und lacht mich
an. Die Flasche zeigt auf Paul. Er ist zu feige für die Wahrheit und wählt die Pflicht. Er
muss die nächsten Runden jeden Satz mit »Aye Käpt'n« beenden, das hat sich sein bester
Freund Koni a. k. a. Käpt'n Koni ausgedacht. Schallendes Gelächter. Dieser Geburtstag ist
der schönste seit Langem. Das großartigste Geschenk ist ein unbeschreibliches Gefühl
von Freiheit, das mich seit dem Schließen der Wohnungstür nicht mehr verlassen hat.
Nach und nach gehen alle Freunde nach Hause, es ist Karfreitag, der 6. April 2012,
und langsam wird es richtig kalt am immer schwächer brennenden Feuer. Noch ein paar
letzte Glückwünsche, Verabschiedungen und Umarmungen, bis Paul und ich allein da-
stehen. Zum ersten Mal bauen wir unser Zelt auf und räumen die Taschen in die Apsis.
Kaum sind wir in die warmen Schlafsäcke gekrochen, fängt es an zu regnen.
»Gute Nacht, Bro«, sage ich gegen Pauls Seite der Zeltwand.
»Gute Nacht, Hansen«, antwortet er, und ich starre an die Decke des Zeltes. Mein
neues Zuhause für die nächsten 180 Tage. Ich denke daran, wie seltsam es war, heute
die Friedelstraße in Richtung Maybachufer hochzufahren, so, wie ich es fast jeden Tag
mache. Rechts aufs Maybachufer abbiegen, am Lidl vorbei und immer weiter. Aber man
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