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Meine Mutter hat uns an einem sonnigen Apriltag unter Vollnarkose per Kaiserschnitt
geboren. Es war bereits das dritte Mal in Folge, dass sie mit Zwillingen schwanger war.
Die ersten beiden wurden nie geboren, vom zweiten Paar überlebte nur unsere große
Schwester Lilli, und beim dritten Mal gebar sie tatsächlich Zwillinge. Ob sich meine
Mutter in der Schwangerschaft darüber gefreut hat, erneut doppelt so schwer tragen zu
müssen, weiß ich nicht. Jetzt lacht sie, wenn sie davon erzählt, aber die ersten Jahre wa-
ren bestimmt kein Kinderspiel. Immerhin hatte sie meinen Vater als Mitkämpfer, der
Kinderarzt ist und ihr zur Seite stehen konnte, wenn die Zweijährige im Garten in eine
Wespe trat und die Säuglingsbrüder im selben Moment nach der Brust schrien.
Meine Mutter ist Goldschmiedin, und als wir beide unsere kleine, süße Mama um
mindestens zwei Köpfe überragten und in die weite Welt wollten, schenkte sie uns je-
dem einen Ring, den wir beide seither jeden Tag tragen. Er ist flach und silbern und hat
eine goldene Mitte, auf der für Paul ein Kreis mit einem Punkt darin eingraviert ist und
für mich zwei parallel laufende gewellte Linien und ein abschließender gerader Strich.
Die Erklärung dafür? Als wir etwa vier Jahre alt waren, fragte meine Mutter uns beide:
»Sag doch mal, was ist die Welt eigentlich für dich?« Und Paul antwortete: »Hier bin
ich, und um mich herum ist Welt.« Und ich habe gesagt: »Hier bin ich, dann kommt
ganz viel Wasser und dahinter eine Mauer und dann nichts mehr.« Daran muss ich in
letzter Zeit oft denken. Paul, der Egozentrische, ich, der Selbstlose. Man kann es so inter-
pretieren, und sicherlich gibt es einen wahren Kern, aber im Moment bemerke ich stär-
ker denn je die Gemeinsamkeit. Wahrscheinlich, weil wir einen gemeinsamen Plan ha-
ben, einen, der uns beiden tagtäglich exakt dasselbe abverlangt. Es gibt für mich ein Ziel,
nach dem ich mich sehne, und ich denke, wenn ich das erreicht habe, bin ich glücklich,
und das ist bei Paul nicht viel anders. Im Augenblick ist das Ziel ganz konkret und den-
noch so ungreifbar: Shanghai.
Es ist der erste Abend unserer Reise. Heute Morgen sind wir aufgewacht und haben uns
gegenseitig zu unserem dreißigsten Geburtstag gratuliert. Wir lagen nebeneinander im
Bett, wie auch die letzten paar Nächte zuvor, da wir unsere Zweizimmerwohnung für
die Hochphase der Tourvorbereitung völlig umstrukturiert hatten. Der Flur war das La-
ger, mein Zimmer die Werkstatt und Packstation und Pauls Zimmer Büro und Schlafzim-
mer. Paul hat uns einen Plan aufgestellt, in dem die letzten Tage in Stunden aufgeteilt
waren, was wann genau zu tun sei. Und an viel Schlaf war nicht zu denken. Gestern
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