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Der Tag zehrt an unseren Kräften. Ständig wechselnder Wind, die leichte Steigung
und schlechte Straßen machen das Fahren zu Qual. Egal wie ich an meinen Lenker greife,
ich finde keine bequeme Position. Ständig schlafen mir die kleinen Finger ein, und die
Handgelenke schmerzen von den Schlaglöchern. In solchen Momenten helfen auch keine
warmen Gedanken. Paul schwärmt mir von den tollsten Dingen vor, die er machen
wird, wenn er wieder zu Hause ist - in der Badewanne liegen, Boule spielen, ein Ome-
lett braten, ein Buch auf dem Sofa lesen, ein Mädchen küssen … - aber es hilft alles
nichts, ich hab einfach keinen Bock mehr. Stumm schleppe ich mich hinter ihm her, bis
wir endlich auf einem kleinen Berg beschließen, das Nachtlager aufzuschlagen. Wir hät-
ten unseren Platz nicht besser wählen können, auf der gesamten Tour hatte ich keinen so
unglaublichen Blick: Rings um uns her kann man fast 100 Kilometer weit schauen, se-
hen, wie die Wüste in die schneebedeckten Berge übergeht, wie sich die Straße in der
Sonne glänzend durch sanft geschwungene Hügelketten schlängelt, wie karge und bizar-
re, in parallelen Ketten angeordnete Felsformationen in der Abendsonne Schatten werfen
wie auf einer Reliefkarte. Es ist, als wenn einem die Natur eine sanfte Ohrfeige gibt,
wenn man mal wieder vergessen hat, wo man eigentlich ist, was man hier gerade Au-
ßergewöhnliches erleben darf. All die Anstrengung ist vergessen.
»Das sind die Momente, für die wir die Tour machen«, sagt Paul andächtig und
blickt in die Ferne, wo die Sonne über den Ölfeldern untergeht
»Jap«, seufze ich und nehme innerlich die Flüche zurück, die ich vor einer Stunde
noch über dieses Land ausgesprochen hatte. »So muss es einer Mutter gehen, die eben
ein Kind geboren hat. Auch die irrsinnigsten Schmerzen sind vergessen, wenn es einmal
da ist.«
»Dann hast du soeben das Vorgebirge des Himalaja geboren?«, witzelt Paul.
»Sozusagen«, seufze ich und fasse mir an den Bauch. Wir wollen früh schlafen ge-
hen, um am nächsten Morgen gegen fünf den Sonnenaufgang nicht zu verpassen. Und
es lohnt sich. Als wir am 14. in unserer Mulde auf dem Gipfel sitzen, mit einem heißen
Kaffee in der einen und einem Compressed Army Biscuit in der anderen Hand, und die
Sonne über den schroffen Felsen aufgeht, ist das wie … »eine Zwillingsgeburt«, flüstert
Paul. Den Witz werde ich nicht zum letzten Mal gehört haben.
Wir fahren den ganzen Vormittag über zwei kleinere Pässe und landen zu unserer bit-
teren Enttäuschung erneut in der Wüste, nur diesmal auf 3000 Meter Höhe. Weil mit-
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