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Eine Volksrepublik
Der Markttag ist in fast jeder Schweizer Stadt ein guter Zeitpunkt, um Politik in Aktion zu
erleben. Nicht weil Reden gehalten oder an den Ständen Parteiaktivisten agitieren würden,
sondern weil es keinen besseren Tag gibt, um Unterschriften zu sammeln. Ein Spaziergang
durch die Stadtmitte von Bern gleicht einem Spießrutenlauf, bei dem die Spießruten durch
Kugelschreiber ersetzt werden - jeder mit einem Klemmbrett Bewaffnete will Ihren Na-
men auf seiner Liste. Das sind keine aufdringlichen Spendensammler, die es auf Ihr Geld
abgesehen haben, obwohl leider auch diese immer häufiger auf Schweizer Straßen anzu-
treffen sind. Und die Papiere sind keine nutzlosen Petitionen, die der Regierung übergeben
werden, ohne dass irgendjemand Notiz davon nehmen würde. Wir sind hier in der
Schweiz, wo das Volk die Macht hat und sie auch nutzt. Eine Unterschriftensammlung ist
der erste Schritt hin zu einem Referendum, dem wichtigsten Werkzeug der direkten De-
mokratie. Ihnen gefällt eine Entscheidung der Regierung nicht? Dann sammeln Sie Unter-
schriften, um sie zu revidieren. Sie wollen ein neues Gesetz? Dann suchen Sie Gleichge-
sinnte. Sie hassen Minarette? Dann ziehen Sie mit Unterschriftenlisten über die Marktplät-
ze. So ungefähr. Unterschriftensammler sind ziemliche Nervensägen, aber zumindest ich
kann ihnen mit vier einfachen Worten ausweichen: Ich bin kein Schweizer. Als Ausländer
bin ich hier nicht wahlberechtigt, meine Unterschrift hat also keinen Wert.
Außenstehenden fällt es schwer nachzuvollziehen, dass ein Land funktionieren kann, in
dem jedes Gesetz und jede Regierungshandlung Thema einer Volksabstimmung ist.
Schweizer hingegen verstehen nicht, dass irgendein Land ohne solche Mitbestimmung
auskommt. Ob Steuererhöhungen, Afghanistankrieg, Privatisierungen oder Kopfpauschale
- all das wäre in der Schweiz wahrscheinlich nicht möglich, denn genau solche Fragen
wären Themen für ein Referendum. Das Schweizer Volk kann ein Gesetzgebungsverfahren
initiieren oder zu Fall bringen; es kann die Regierung zu einer neuen Politik zwingen oder
bereits gefällte Entscheidungen rückgängig machen. Keine Person oder Partei hat jemals
allein das Sagen - es entscheidet das Volk. Vergessen Sie China und Nordkorea, es gibt nur
ein Land, das den Zusatz »Volksrepublik« wirklich verdient, und das ist die Schweiz.
In den meisten Landesteilen verleiht man seiner Meinung mithilfe der Wahlurne Aus-
druck, im Kanton Appenzell Innerrhoden gibt es jedoch eine andere Methode. Eine, die
sich seit dem 14. Jahrhundert kaum geändert hat.
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