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wahrscheinlich einem Vertrauensverlust in die Kirche oder einem Rückgang der Protes-
tanten geschuldet. Es könnte aber auch nur ein Steuertrick sein. Denn in den meisten
Kantonen zahlt man noch immer seinen Zehnten, also Kirchensteuer, und dessen Höhe
hängt vom Einkommen ab, vom Wohnort und davon, welcher Kirche man angehört.
Man kennt Ähnliches aus Deutschland, doch in britischen Ohren klingt das mittelal-
terlich, vor allem weil man diese Steuer auch zahlen muss, wenn man gar kein aktiver
Kirchgänger ist. Der sauberste Weg, diese Steuerzahlung zu vermeiden, ist ein offizieller
Kirchenaustritt. Eine prima Lösung, wenn man eine Person ist, schwieriger schon für ein
Unternehmen - in drei Viertel aller Kantone müssen auch sie Kirchensteuer zahlen, was
sich im Kanton Zürich jährlich zu etwa 80 Millionen Franken summiert. Und wenn man
im Kanton Bern erfolgreich Lotterie gespielt hat, gehen acht Prozent des Gewinns an die
Kirche. Autsch!
Von allen historischen Verwerfungslinien in der Schweizer Gesellschaft ist die religiöse
heutzutage die am wenigsten offensichtliche, vor allem weil sie so unscharf verläuft. Es
gibt französischsprachige Reformierte und deutschsprachige Katholiken ebenso wie um-
gekehrt. Auch sind die Kantone nicht sauber in zwei Lager geteilt, und es gibt auch keine
Ost-West- oder Nord-Süd-Trennung.
Die kreuz und quer verlaufende Glaubensspaltung zwischen Katholiken und Refor-
mierten ist in der heutigen Schweiz relativ bedeutungslos. Viel wichtiger ist den meisten
Schweizern, wo man wohnt, für welche Partei man stimmt und was man sagt. Während
das Christentum half, die Schweiz von heute zu schaffen, hat es sich vom Konflikt zum
Konsens hinbewegt. Einst wäre es undenkbar gewesen, dass eine katholische Nonne
durch Bern geht, während die Glocken der protestantischen Kathedrale läuten; heute ist
das zumindest für die Einheimischen normal. Ich hingegen bin immer noch jedes Mal
hingerissen. Was nicht an den wundervollen Glockenklängen liegt, denn die sind in re-
gelmäßigen Abständen tagtäglich zu hören. Auch nicht daran, dass ich in England nur
ein einziges Mal Nonnen gesehen habe, und zwar in The Sound of Music ( Meine Lieder -
meine Träume ). Vielmehr zeigt es, was eine Gesellschaft erreichen kann, wenn sie sich
wirklich bemüht. Wie traurig, dass diese in der Vergangenheit schmerzlich errungene Er-
fahrung heute von jenen ignoriert wird, die den Islam unbedingt zum Streitthema ma-
chen wollen. Wieder einmal könnte die Religionsfrage die Schweiz spalten, sodass die
Zukunft weit weniger sicher scheint als die Vergangenheit.
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