Travel Reference
In-Depth Information
Von Minaretten und Minderheiten
Die Tatsache, dass nur noch ein Sechstel der Genfer Bevölkerung Calvins Glauben teilt,
zeigt, wie empfindlich sich das Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten ver-
schoben hat. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts stellten Protestanten landesweit die Mehrheit.
Dann kamen die 60er-Jahre, das Immigrationsjahrzehnt, als Italiener und Portugiesen zu
Tausenden in die Schweiz strömten, um dort zu arbeiten. Sie waren katholisch - und sie
blieben. Heute gibt es hier weit mehr Katholiken als Protestanten, aber nur, weil ein Fünf-
tel von ihnen Ausländer sind. Allein auf die Schweizer Bevölkerung bezogen - also abzüg-
lich sämtlicher Immigranten - sind die Zahlen ungefähr gleich geblieben (etwa 41 Pro-
zent). Wobei der Riss zwischen Katholiken und Protestanten praktisch keine Rolle mehr
spielt. Er spaltet die Schweizer nicht mehr wie ehedem. Stattdessen hat sich eine neue Re-
ligion ausgebreitet.
Vor vierzig Jahren waren über 98 Prozent der Schweizer christlichen Glaubens, heute
sind es gerade noch 75 Prozent. Wobei diese nationalen Durchschnittszahlen die Ausschlä-
ge nach oben und unten verschleiern: So sind etwa im Kanton Uri beinahe 93 Prozent ka-
tholisch, in der Stadt Basel bilden Protestanten und Katholiken zusammen nicht einmal
mehr die Mehrheit. Zum Teil hängt das mit der gestiegenen Zahl der Muslime zusammen,
die vor allem aus Exjugoslawien und der Türkei stammen und 2005 einen Anteil von 5,7
Prozent der Bevölkerung ausmachten. Das ist unglaublicherweise ein höherer Prozentsatz
als in Deutschland (5,0 Prozent) oder Großbritannien (4,6 Prozent). Für ein Land, in dem
einmal fast jeder christlichen Glaubens war, ist das ein riesiger Umbruch, der mit schmerz-
haften Umstellungsschwierigkeiten einhergeht.
Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist die Schweizer Politik in Fragen der Im-
migration und Integration zu einem Schlachtfeld geworden, wobei die Religion eine große
Rolle spielt. Zwar sind in der Schweiz inzwischen viele Religionen vertreten, doch die Be-
völkerung hat sich daran noch nicht gewöhnt, und nicht jeder ist damit einverstanden, wie
die Abstimmung über die Minarette 2009 belegt. Wandel in der Schweiz geht nie schnell
vonstatten.
Aber vielleicht noch bezeichnender ist die astronomische Zunahme von Nichtgläubigen.
Über elf Prozent der Bevölkerung kreuzen jetzt »ohne Religion« an, eine Verzehnfachung
innerhalb von vierzig Jahren. Diese Entwicklung ist in großen Städten wie in Basel weit
ausgeprägter als in den standhaften katholischen Gebieten der Zentralschweiz und höchst-
Search WWH ::




Custom Search