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Glocken, Hähne, Kreuze
Die meisten Touristen bemerken kaum den Unterschied zwischen einem katholischen und
einem protestantischen Kanton. Schließlich essen in dem einen nicht alle am Freitag Fisch,
und im anderen ist nicht jeder ein Workaholic. Nur wenn in einer katholischen Stadt wie
Luzern an einem Extrafeiertag alles geschlossen hat, fällt dem Besucher vielleicht auf, dass
hier irgendetwas ungewöhnlich ist.
Doch auch bei einem Kurzbesuch kann man in beinahe jeder Schweizer Stadt und in
fast jedem Dorf rasch erkennen, ob die Kirche katholisch oder protestantisch ist. Ein kurz-
er Blick hoch zur Turmspitze genügt: Ein Hahn ziert den protestantischen Turm, den ka-
tholischen ein Kreuz. Das ist schon alles. Fast 500 Jahre Religionsstreit lassen sich auf die
Entscheidung zwischen Hahn oder Kreuz reduzieren, was natürlich besser ist als Kugeln
und Bomben. Obwohl das Innere, sobald man eine Kirche betritt, sowieso alles verrät.
Grob gesagt zählen die Schweizer Protestanten zu den Verfechtern des »Weniger ist
mehr«, die Innenausstattung ihrer Gotteshäuser ist so karg, dass dagegen sogar die angli-
kanischen überladen wirken. Nur wenige warten mit solchen Kinkerlitzchen wie Gemäl-
den, Chorgestühl, Lesepult oder gar einem Altar auf. Hier geht es nur ums Predigen, Sin-
gen und Beten, da will man sich nicht von Stuckputten, Deckenmalerei, Glocken oder
Weihrauch ablenken lassen. Dafür muss man in eine katholische Kirche gehen, am besten
in eine richtig große.
Mitten im Kanton Schwyz gibt es einen riesigen Platz vor einem noch größeren Kloster.
Das ist Einsiedeln, katholischer geht es nicht. Eine Schar von Nonnen und ein Priester in
schwarzer Soutane eilen über das Kopfsteinpflaster, den Mittelpunkt eines reich verzierten
Brunnens bildet eine vergoldete Madonna, in Souvenirgeschäften türmen sich Rosenkrän-
ze, Kruzifixe und Jesus-und-Maria-Nippes. Das ist definitiv kein protestantisches Terrain.
Ja, ich beginne mich zu fragen, ob Einsiedeln überhaupt noch zur Schweiz gehört, hier
sieht es eher wie in Spanien oder Italien aus. Das Portal zwischen den beiden Kirchtürmen
ist wahrlich imposant, doch sobald man das Innere betreten hat, ist das Äußere sofort ver-
gessen: Willkommen in einer Welt, geschaffen von einem Hochzeitstortenbäcker im Dro-
genrausch. Es ist atemberaubend, allerdings nicht unbedingt im positiven Sinne.
Rosafarbene Stuckblumen überwuchern die weißen Wände und ranken sich um Säulen
und Gemälde. Dazu eine Kanzel, die eines Papstes würdig wäre, güldene Kapitelle und En-
gel in allen Ecken und Winkeln - es ist der Albtraum eines jeden Protestanten. Wahr-
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