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Rütli fahren. Ein langes Tuten der Schiffssirene und ein lautes Zischen des Dampfkessels,
und los geht es über den tiefblauen See.
Eleganter kann man wohl kaum reisen als mit einem schimmernd weißen Dampf-
schiff, dessen zwei große rote Schaufelräder durchs klare Wasser pflügen und dessen
Holzdecks in der Sonne glänzen. Man fühlt sich wie in einem Agatha-Christie-Roman
oder einem Merchant-Ivory-Film, ich rechnete schon fast mit Maggie Smith samt Son-
nenschirm. Auf dem Schiff ahnt man kaum, dass man sich auf dem zweitgrößten See der
Schweiz befindet, dessen bizarre Umrisse mit all den Buchten, Beulen und Engpässen sei-
ne wahren Ausmaße kaschieren. Wie ein kleines Gewässer wirkt er vor allem im südli-
chen Teil, wo die Klippen und Berge dem See so nahe rücken, dass kaum Siedlungsraum
bleibt.
Die gemächliche Fahrt führt im Zickzackkurs zu Dörfern an beiden Ufern, sodass es
über zwei Stunden dauert, ehe wir die letzte Landzunge umschiffen und in den Urner See
gelangen. Das fällt nicht weiter auf, denn weder ein Kanal noch eine Grenze oder eine
Veränderung der Wasserfarbe markiert den Wechsel. Im Grunde befinden wir uns noch
auf demselben Gewässer, aber man erwähne das bloß nicht gegenüber den braven Bür-
gern des Kantons Uri; sie sind nämlich sehr eigen, was ihren See betrifft. Am Rütli stei-
gen außer mir nur drei Passagiere aus, der Geburtsort der Schweiz ist anscheinend weder
für Touristen noch für Schweizer eine große Attraktion.
Von einer Wiese weit und breit keine Spur, es gibt überhaupt nicht viel zu sehen außer
einem Haufen Felsen, Bäumen und Wasser. Von der Anlegestelle führt nur ein Serpenti-
nenweg bergauf. Zehn Minuten später stehe ich am Rütli und bin ziemlich unbeein-
druckt. Vor mir erstreckt sich eine lange, eher unförmige und noch dazu abschüssige und
buckelige Weide; allerdings ein durchaus idyllischer Anblick mit den grasenden Kühen
und den aus dem Boden ragenden Felsbrocken. Dass es sich hier um einen Ort von natio-
naler Bedeutung handelt, sieht man lediglich an dem Fahnenmast mit der riesigen
Schweizer Fahne. Wären wir in Amerika, befände sich hier ein Nationalpark mit Besu-
cherzentrum, Souvenirshop und Café; oder auch nicht, denn die Wiese ist nicht mit dem
Auto erreichbar. In Großbritannien wäre das Gelände zum Schutz des heiligen Rasens
eingezäunt, und man müsste bezahlen, um ihn betrachten und dem Audioguide lauschen
zu dürfen, ehe man am Ausgang ein Erinnerungsgeschirrtuch kauft. Wenn man's recht
bedenkt, ist es eigentlich ein netter Zug, dass die Schweizer nicht viel Aufhebens darum
machen und sich folglich, abgesehen vom Fahnenmast, in den letzten 700 Jahren hier
nicht viel verändert hat. Und der großartige Blick auf See und Berge ist ohnehin zeitlos.
Vielleicht haben sich die drei Verschworenen ja deshalb hier getroffen und nicht unten in
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