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Um die Schweizer wirklich zu verstehen, müsse man nur den Wilhelm Tell lesen, riet mir
ein älterer Schweizer. Stimmt, Tells Geschichte bringt den Schweizer Charakter auf den
Punkt, aber ist es nicht seltsam, dass ein von einem Deutschen verfasstes Theaterstück
Fundament einer Nation sein soll? Doch der Mythos Schweiz, ob Tell oder Heidi oder die
Kriegserfahrung, ist nun einmal genauso wichtig wie die Wirklichkeit. Im Grunde ist die
Schweiz ein Marketingmanöver auf nationaler Ebene, bei dem der Erfolg alle Mittel hei-
ligt. Die schwyzerdütsche Mehrheit übernimmt bereitwillig Klischees wie das Fondue
und die Milchschokolade, die beide im französischsprachigen Landesteil erfunden wur-
den. Und zwar weil es sich umsatzsteigernd auswirkt, das Image des Landes zu stärken -
ein Image, das darauf beruht, irgendwie sauber, ordentlich, akkurat und tüchtig zu sein.
Diesem Ideal zu entsprechen kann schwierig sein, aber es funktioniert, weil die Schwei-
zer selbst daran glauben. Und die Gemeinschaft über das Individuum stellen, um es zu
erreichen.
Um dieses gemeinsame Streben, an einem Strang zu ziehen, zu beschreiben, greifen die
Schweizer eher selten auf das Motto zurück, das auf der Kuppel des Bundeshauses ge-
schrieben steht: Unus pro omnibus / omnes pro uno - einer für alle, alle für einen. Das ist
sehr erhebend, aber da wir im 21. Jahrhundert leben, braucht man ein trendiges neues
Wort. Englisch ist das neue Latein, folglich lautet das Wort »Swissness«. So wie sie einst
ihrem Land einen lateinischen Namen gaben, um die Gräben zu überwinden, greifen die
Schweizer nun auf das Englische oder, besser gesagt, das Swinglische, zurück, um ihr na-
tionales Gemeinschaftsgefühl zu beschreiben. Swissness mag Außenstehenden wenig sa-
gen, aber es bringt das Selbstgefühl des Landes auf den Punkt wie kein zweiter Begriff.
Ein nationales Bestreben mit einem frei erfundenen Fremdwort zu bezeichnen mag wi-
dersprüchlich erscheinen, aber das ist eben typisch Schweiz: Sie ist eine Binneninsel,
einen größeren Widerspruch gibt es nicht.
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