Travel Reference
In-Depth Information
fähre Gehzeit nicht fehlen: 45 Minuten Anstieg den sanften Hang hinauf, stets die ab-
schreckenden Berge vor Augen.
Der alte Ortskern besteht aus nur wenigen Häusern links und rechts der Straße, gleich
dahinter schließen sich neuere Häuser und Wiesen mit wiederkäuenden Kühen an. Hol-
lywood könnte schwerlich eine bessere Kulisse für Shirley Temple als niedliches rotbä-
ckiges Mädchen finden. Angesichts seiner vielen sonstigen Ungenauigkeiten bezweifle
ich sowieso, dass der Heidi -Film von 1937 der ländlichen Idylle gerecht wird. Liegt es
doch vor allem an ihm, dass die meisten Leute glauben, Heidi sei ein blondes Mädchen
gewesen. Im Buch hat sie einfach braunes Haar, und sie singt und tanzt auch nicht.
Wahrscheinlich hätte Johanna Spyri die Shirley-Heidi nicht wiedererkannt.
Falls Sie in Ihrer Kindheit auf die Heidi -Lektüre verzichten mussten, hier Teil zwei:
Kaum hat sie sich an den Opa und die Ziegen gewöhnt, holt sie ihre Tante und bringt sie
nach Frankfurt, wo sie Clara, einem reichen kranken Mädchen, Gesellschaft leisten soll.
Die reinste Katastrophe. Nicht nur, dass sie jetzt in einer deutschen Großstadt wohnen
muss, Claras Gouvernante mit dem köstlichen Namen Fräulein Rottenmeier ist auch
noch ein wahrer Drachen. Ohne ihre tägliche Ziegenmilch und die Bergluft, die ihr
schrecklich fehlen, siecht Heidi binnen Kurzem dahin. Aber die Geschichte endet - na-
türlich! - gut: Heidi kehrt in ihre geliebten Schweizer Berge zurück. Und als Clara zu Be-
such kommt, kurieren Ziegenmilch und frische Luft auch sie: Nun braucht sie keinen
Rollstuhl mehr und tollt über die Wiesen. Freudentränen ringsum.
Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass meine anfängliche Begeisterung für das Buch un-
gefähr in dem Augenblick schwand, als Heidi nach Frankfurt fährt. Ja, auch der erste Teil
war ein bisschen kitschig, aber Heidis Unschuld, ihre Liebe und ihr Zutrauen zu anderen
waren sehr reizend. Doch als ein böses deutsches Fräulein auf den Plan tritt und unsere
Heldin in Trübsal versinkt, verliert man schier die Lust zum Weiterlesen. Wenn dann
Clara auch noch durch eine Diät aus Brot, Ziegenmilch, Liebe, Vertrauen und frische Luft
geheilt wird (ohne dass Gemüse oder Obst auch nur erwähnt werden), wird das Buch zur
Qual. Vielleicht bin ich aber auch nur zu sehr Zyniker des 21. Jahrhunderts, um eine mo-
raltriefende Geschichte aus dem 19. Jahrhundert schätzen zu können.
Verglichen mit dem Heidihaus war allerdings selbst der zweite Teil der Geschichte ein
Genuss. Ich hatte eine Berghütte aus Holz erwartet, geriet aber stattdessen in eine Art
Palast: drei Stockwerke mit Steinböden, Glasfenstern und ein hübscher Garten. Drinnen
ist es noch schlimmer. Eine voll ausgestattete Küche, ein Kachelofen, Innentoilette und
ein eigenes Zimmer für das Heidi - mit Möbeln, die Barbie gefallen würden. Doch meine
Enttäuschung wird mehr als wettgemacht durch das Vergnügen über die Einträge im
Search WWH ::




Custom Search