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Zu Besuch bei Johanna
Nach dem ernüchternden Stelldichein mit einem Heidi-Burger stoße ich im Migros über-
raschend erneut auf das Heidi, es starrt mich dutzendfach aus vielen Reihen im Kühlregal
an. Heidi ist eine Marke geworden, und zwar für Milchprodukte aller Art. Vollmilch, Jo-
ghurt, Käse, Sahne, auf allem prangt ein engelsgleiches Mädchen und in großen roten
Buchstaben der Name »Heidi«. Dabei kommen in der Geschichte gar keine Kühe vor, nur
Ziegen. Eindeutig ein Fall von dichterischer Freiheit im Dienst des Marketing.
Das Heidi ist in der Schweiz praktisch allgegenwärtig. Ungeachtet ihrer Rolle als Natio-
nalikone im In- und Ausland, ist sie das Gesicht einer jeden Werbekampagne für ein
Schweizer Produkt. Ich muss dieses kleine Schweizer Mädchen endlich persönlich kennen-
lernen und mehr über das Heidi und damit über die Schweizer Identität herausfinden. Na-
türlich kann ich ihr auf dem Joghurtbecher höchstens zunicken und nicht die Hand schüt-
teln, also werde ich ihre Geschichte lesen und mich mit ihrer Erfinderin bekanntmachen.
Im Reich der Frauen, die man nur mit Vornamen kennt, steht Heidi neben Cleopatra
und Cher in der ersten Reihe, dabei weiß ich fast nichts über sie. Wie hieß sie beispiels-
weise mit Nachnamen? In der Schweiz-Abteilung des Stauffacher English Bookshop steht
ein Regal mit hiesigen Autoren, wo das Heidi leicht unter S wie Spyri gefunden werden
kann. Das Cover zeigt ein kerngesund aussehendes Mädchen mit blonden Haaren, das ziel-
strebig einen grasbewachsenen Hang hinaufläuft. Das rote Kleid mit der weißen Schürze
gibt ihr eine hübsch patriotische Schweizer Note. Ein kurzer Blick in die Einleitung verrät
mir, dass Johanna Spyri fast fünfzig Geschichten geschrieben hat, doch sie enthält nur we-
nige Details aus ihrem Leben. Die Schöpferin der berühmtesten Schweizerin bleibt ge-
heimnisumwittert. Mir fällt nichts Besseres ein, als bei ihrem Ende anzufangen und nach
Zürich zu fahren, wo sie viele Jahre verbracht hat und auch gestorben ist.
Im Zug lehne ich mich zurück und vertiefe mich in die englische Übersetzung eines
Schweizer Buchs, das auf Deutsch geschrieben wurde. Da es sich um ein Kinderbuch mit
ziemlich großer Schrift handelt, komme ich damit ähnlich schnell voran wie der Zug. Hier
Heidis Geschichte, erster Teil: Nachdem das Waisenkind Heidi von einer unwirschen Tan-
te beim brummigen Großvater abgeladen wurde, gewinnt das Mädchen mit ihrer unschul-
digen Art das Herz des alten Mannes, vertieft ihre Freundschaft zum Geißenpeter, freun-
det sich mit seiner blinden Großmutter an, tollt über Wiesen, füttert Ziegen und findet da-
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