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Von der Schiene auf die Straße
Trotz der spektakulären Bergstrecken, der erfolgreichen Marketingstrategie und der re-
kordverdächtigen Eisenbahnnutzung lieben die Eidgenossen auch ihr Auto. In der Schweiz
sind vier Millionen Schweizer Fahrzeuge angemeldet, das sind mehr PKW pro Kopf als in
Großbritannien und in Deutschland. Das Seltsame ist, dass die Straßen trotzdem nicht
überfüllt wirken, zumindest im Vergleich zum Mittleren Ring in München. Wo sind also
die Schweizer Autos? Doch nicht etwa in der Garage? Sicherlich nicht in den Einfahrten,
weil die wenigsten Häuser eine besitzen. Im Sommer kann man jedoch leicht feststellen,
wo all die Autos sind - sie stehen vor dem Gotthardtunnel Schlange. Radio- und Fern-
sehnachrichten geben regelmäßig die Länge der Blechlawine durch, die sich am Freitag
südwärts wälzt und am Sonntag nach Norden zurückrollt. Schlimmer noch ist es am Be-
ginn und Ende der Schulferien, wenn 20 Kilometer lange Staus und fünfstündige Wartezei-
ten keine Seltenheit sind.
Doch auch in der Hauptstausaison gibt es im Schweizer Frühstücksfernsehen keine Li-
veberichte von der Autobahn, was vor allem daran liegt, dass es kein Frühstücksfernsehen
gibt. Kein munteres Moderatorenduo auf dem Sofa, keine redundanten Berichte vor Ort,
keine Nachrichten in Endlosschleife. Stattdessen sehen die Schweizer Fernsehzuschauer
das Wetter im ganzen Land, und zwar mittels einer Serie sich wiederholender Webcam-
Aufnahmen.
Das mag so aufregend klingen, wie dem Schnee beim Schmelzen zuzusehen, aber es er-
füllt einen sinnvollen Zweck. Die meisten Aufnahmen kommen live von Berggipfeln, nicht
wegen des Panoramablicks, sondern damit man weiß, wo das Wetter gut ist, bevor man
den Wander- oder Skiausflug antritt. Denn jede Wetterstation liefert nicht nur Livebilder,
sondern auch eine kleine lokale Wettervorhersage für den Tag. Wenn es auf der Rigi also
bedenklich aussieht, gehen Sie stattdessen auf das Brienzer Rothorn. Die Fernsehbilder
üben einen seltsam suggestiven Reiz aus, und außerdem sind sie unheimlich praktisch,
denn wer möchte sich schon mit Auto oder Zug zu einem Berg begeben, dessen Gipfel in
Wolken gehüllt ist, sobald man oben angelangt ist?
Das Schöne am Autofahren in der Schweiz ist, dass sich alle so höflich verhalten. Ver-
kehrsrowdys kennt man in der Schweiz nicht, weil Rowdytum an sich schon unschweize-
risch ist. In fast jeder Situation, sei es am Arbeitsplatz oder am Steuer, neigen Schweizer
dazu, Konfrontationen zu vermeiden, und wollen auch keine heraufbeschwören. Man sieht
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