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Zweifellos erfordert die Beherrschung dieser Kunst jahrelange Übung. Nicht nur, dass
man die bereits gefalteten Seiten unten halten muss, während man gleichzeitig versucht,
die nächste zwischen die Gabelzinken zu bekommen: Durch das Dressing ist auch alles
recht glitschig, weshalb mir dieses Blatt-Origami einfach nie gelingen will. Was mir nur
eine der beiden anderen Möglichkeiten offenlässt.
Angesichts der Bedeutung von Tischsitten in diesem Land staunt man, wenn man den
Verzehr eines Salatblatts in der Standardvariante sieht. Dabei sticht man nämlich einfach
mit der Gabel in die Mitte eines Blattes, schüttelt das überflüssige Dressing ab und stopft
es sich im Ganzen in den Mund. Ja, einfach so. Natürlich ist das nicht jedermanns Sache,
aber es wird doch von einem erschreckend großen Prozentsatz der Bevölkerung prakti-
ziert, darunter vornehme Damen beim Lunch außer Haus und Geschäftsleute in Anzug
und Krawatte. Schön und gut, außer wenn man ihnen gegenübersitzt. Bestenfalls bleibt
einem das eigene Salatblatt im Halse stecken, schlimmstenfalls sieht das Gegenüber mit
dem Riesenblatt vor dem Mund aus wie der Mensch in Alien , als er gerade den Kampf
ums Luftholen verliert.
Dann gibt es noch die dritte Variante, die praktikable und von den meisten Ausländern
bevorzugte, wenn sie vor einem Teller sich aufblähender Blätter sitzen. Für einen strikten
Verfechter der Schweizer Blättikette grenzt diese ungehobelte Vorgehensweise an Blas-
phemie, aber für uns Barbaren ist sie nun einmal die einfachste Möglichkeit. Man behilft
sich wie bei Spaghetti, man schneidet die Blätter einfach klein. Dank einer italienischen
Großmutter blieb mir keine andere Wahl als zu lernen, wie man Spaghetti um eine Gabel
wickelt, doch da ich keine Schweizer Anverwandte hatte, fehlte mir in meiner Kindheit
die Anleitung, angemessen ein Salatblatt zu verspeisen. Als ungehobelter Tabubrecher
gehöre ich zum »Erst-schneiden-dann-essen«-Lager. Weniger Getue, weniger Geklecker
und eine reelle Chance, mit dem Salat fertig zu sein, bevor der Nachtisch kommt.
Die kulturellen Unterschiede beim Salat gehen aber noch tiefer. Wie viele andere Aus-
länder erhielt ich meine erste Schweizer-Salat-Lektion in folgender Situation: Sie bestel-
len einen Salat, und man fragt Sie, wie in vielen Schweizer Restaurants üblich, nach
Ihrem Dressing-Wunsch. Zur Auswahl stehen eine französische Variante (French Dres-
sing) oder eine italienische. Sie haben Lust auf eine leichte Vinaigrette und entscheiden
sich daher für die französische Variante, worauf die Blätter mit einem sahnig-weißen
Dressing überzogen serviert werden, das wie flüssige Mayonnaise aussieht. Und das ist es
im Grunde auch, leicht verdünnt und gewürzt durch Essig und Senf. Was andernorts als
French Dressing bezeichnet wird, also Essig, Öl und Kräuter, wird in der Schweiz als ita-
lienisches Dressing bezeichnet. Und mehr Auswahl gibt es nicht. Was aber nicht weiter
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