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Die Deutschschweizer kommen allerdings nicht hierher, um sich im Straßenverkehr
den Puls hochjagen zu lassen, und auch nicht des Essens wegen, das sie bei ihrem Italie-
ner um die Ecke ebenso bekommen, sie wollen die Landschaft und die Sonne genießen.
Man wird hier als Deutschschweizer ja nicht nur mit Palmen, blauem Himmel, hervorra-
gender Eiscreme und glitzernden Seen verwöhnt, man kann auch mit Franken bezahlen,
kommt ohne Italienischkenntnisse aus und muss keine Angst vor Taschendieben haben.
In den meisten Reiseführern wird das Tessin die Schweizer Riviera genannt, richtiger
aber wäre es als Schweizer Jersey oder Guernsey betitelt - ein sonniger Fluchtpunkt im
eigenen Land. Der große Unterschied ist, dass man es per Zug erreichen kann.
Nach dem Vierwaldstätter See windet sich der Zug gen Süden in Richtung des felsigen
Gotthardmassivs durch ein immer enger werdendes Tal und klettert dabei höher und hö-
her die Berge hinauf. Man taucht in Tunnel ein und wieder daraus auf, manchmal in ent-
gegengesetzter Richtung, weil der Zug im Berginneren eine 180-Grad-Kurve gemacht hat.
Dann ein letzter langer Tunnel, und man ist südlich der Alpen. Die Luft ist klarer, die
Sonne scheint heller und die Häuser sind bunter - vielleicht aber auch nur, weil man hier
italienische Laute hört. Und das nur zwei Stunden von Zürich entfernt, dank dem St.-
Gotthard-Tunnel, der 1882 bei seiner Eröffnung als modernes Wunderwerk bejubelt wur-
de. Wenn Sie 2017 wiederkommen, wird sich die Fahrtzeit noch einmal verkürzt haben,
denn die Schweizer bohren gerade den längsten Eisenbahntunnel der Welt, die Neue
Eisenbahn-Alpentransversale ( NEAT ). Sie wird 57 Kilometer lang sein und zwölf Milliar-
den Franken kosten, ein weiterer Beweis, dass die Schweizer beim Tunnelbau keine halb-
en Sachen machen.
Sobald man in Lugano aus dem Zug gestiegen ist, fühlt man sich wirklich nach Italien
versetzt. Bleistiftdünne Zypressen punktieren den Himmel, riesige Salami hängen vor der
macelleria , und auf der verstopften Seeuferstraße ertönt ein unermüdliches Hupkonzert.
Doch damit man nicht vergisst, in welchem Land man wirklich ist, steht unten am Was-
ser eine Statue von Guillermo Tell. Und im nahen Caslano gibt es eine echte Schweizer
Schokoladenfabrik. Ich folge einfach meiner Nase.
Als ich auf dem erhöhten Laufsteg über dem Alprose-Fertigungsbereich stehe, schließe
ich einen Moment lang die Augen und atme den gehaltvollen berauschenden Duft ein.
Ich könnte stundenlang hier stehen bleiben, wäre es nicht so unglaublich laut, denn unter
mir klacken, zischen und knallen eine Menge Maschinen. Durch Plexiglasscheiben kann
ich den gesamten Herstellungsprozess von der cremigen braunen Grundmasse bis zu or-
dentlich in Schachteln gestapelten Tafeln beobachten. Die zentrale Gießform spuckt 504
Tafeln pro Minute aus, die zuerst gekühlt und dann in Stapeln zum Verpacken transpor-
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