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Dann eben Cioccolata
Da mir Cailler den Blick in seine Schokoladenkessel verwehrt hatte, suchte ich nach einer
Alternative - ein schwieriges Unterfangen. Seit Suchard seine Produktionsstätte in
Neuchâtel geschlossen hat, wird Schokolade dieses Hauses nur noch in Deutschland,
Frankreich und Österreich hergestellt, und zwar mit Milch aus Neuseeland! Die lilafarbene
Milka-Kuh ist definitiv keine Schweizerin. Tobler und Lindt erlauben, beide aus einer Rei-
he unterschiedlicher Gründe, keine Besichtigung ihrer Fabriken. Gerade als ich schon alles
verloren glaubte, machte mir die Chocosuisse-Homepage Hoffnung auf mein goldenes
Ticket in die Schokoladenfabrik. Denn dort wurden fünf mögliche Besichtigungen angebo-
ten, allerdings eine zu Cailler und drei andere nur für Gruppen oder an einem Mittwoch
oder mit einer vorher ausgestellten schriftlichen Genehmigung. Was nur eine Möglichkeit
übrig ließ. Und so setzte ich mich in einen Zug und wagte mich in den tiefen Süden. Ob-
wohl die großen Schweizer Schokoladennamen deutsch oder französisch sind, begab ich
mich auf die vierstündige Fahrt von Bern nach Lugano. Quasi aus heiterem Himmel, aber
mit durchaus angenehmer Aussicht: Ich würde das italienisch-schweizerische Leben und
dazu cioccolata genießen können. Tessin, ich komme!
In einem Land voller Anachronismen und Widersprüche hat das Tessin wohl die meis-
ten davon zu bieten. Dieser südlichste Kanton sieht hundertprozentig italienisch aus, er
klingt und wirkt auch so und ist dennoch sehr, sehr schweizerisch. Dass man nicht in Itali-
en ist, sieht man an den sauberen Straßen, außerdem fahren die Züge pünktlich, und die
Kellner sprechen bereitwillig Deutsch. Aber nach ein paar Stunden merkt man, dass es
doch ein bisschen anders ist als die übrige Schweiz. Der Busfahrer hält unterwegs an einer
Bar, um schnell einen Espresso zu trinken; die Geschäftsleute in den Cafés auf der Piazza
lesen nicht die NZZ , sondern den Corriere della Sera ; am frühen Abend gibt es eine passe-
giata zum Sehen und Gesehenwerden oder einen gemächlichen Spaziergang durch den
Ort; und jeder Autofahrer hält sich für einen Italiener. Das wäre an und für sich kein Pro-
blem, doch da die meisten Fußgänger aus nördlicheren Schweizer Gefilden stammen, er-
warten sie, dass hier dieselben Vorschriften gelten wie zu Haus. So haben Fußgänger im
Rest des Landes an einem Fußgängerüberweg das Vorrecht, während im Tessin hingegen
das Recht des Schnelleren gilt - ein Aufeinanderprallen der Kulturen, das viele Beinahe-
und hin und wieder auch ein paar ernste Unfälle zur Folge hat.
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