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Ich sah meinem Besuch dort mit großen Erwartungen entgegen - doch ich wurde ent-
täuscht. La Chaux-de-Fonds ist hässlich. Natürlich verwöhnt einen die Schweiz mit ihren
vielen schnuckeligen Städtchen und mittelalterlichen Gebäuden, aber auch nach norma-
len Maßstäben ist der Ort reizlos. Er wirkt wie eine Kreuzung aus einer vernachlässigten
französischen Provinzstadt mit den Resten einer zaristischen Zentralplanung. »Trostlos«
trifft es wohl am besten. Vielleicht entfaltet er im Hochsommer mehr Charme, obwohl
ich mir selbst dann kein munteres Treiben in den Straßen vorstellen kann. An einem kal-
ten Januartag jedenfalls fühlt man sich wie nach Sibirien versetzt. Aber obwohl diese
Stadt nie einen Schönheitswettbewerb gewinnen wird, wurde sie 2009 zusammen mit Le
Locle zum Weltkulturerbe geadelt, allerdings wegen ihrer industriellen Vergangenheit
und der Stadtplanung, nicht aufgrund ästhetischer Kriterien. Offenbar sind die beiden
Städte »einzigartige Beispiele für die gut erhaltene und noch immer funktionierende
Symbiose einer auf nur ein Produkt ausgerichteten Industrie mit dem Städtebau«. Kein
Wunder, dass Karl Marx La Chaux-de-Fonds in Das Kapital als »eine einzige Uhrenma-
nufaktur« beschreibt, was wahrscheinlich wohlwollend gemeint war. Ich vermute jedoch,
dass er nie selbst in dieser vermutlich tristesten Stadt der ganzen Schweiz gewesen ist.
Dank ihrem berühmtesten Sohn, dem Architekten Le Corbusier (Geburtsname
Charles-Édouard Jeanneret-Gris) kann aber auch sie mit ein paar Perlen aufwarten. Ein
vielleicht ebenso prominenter Sohn der Stadt ist Louis Chevrolet, der Auto-Mann, doch
ich halte es mehr mit Le C , der in La Chaux-de-Fonds wenigstens sichtbare Spuren hin-
terlassen hat. Außerdem sind Gebäude so viel interessanter als Autos. Und wärmer, wenn
es draußen kalt ist und schneit. Auch erkennt man bei einem Rundgang in einem so
schlichten, aber grandiosen Bau wie La Maison Blanche, dass die Schweiz architekto-
nisch mehr zu bieten hat als holzverschalte Almhütten. Die offene Raumgestaltung und
klare Linienführung war ihrer Zeit weit voraus und erinnert mehr an die 1930er-Jahre als
an das tatsächliche Baujahr 1912. Am anderen Ende der Stadt befindet sich Le Corbusiers
zweite frühe Glanzleistung, das Traumhaus Villa Turque. Für unsereins ist es das, was
überdauern wird. Entworfen für einen Magnaten der hiesigen Uhrenindustrie gehört es
inzwischen Ebel, einem der Uhrenhersteller, von denen ich noch nie gehört hatte und die
sich wohl als Einzige ein solches Gebäude leisten können - mit doppelt hohem
Empfangssaal, riesigen gewölbten Erkerfenstern und sinnlich geschwungener Linienfüh-
rung.
Abgesehen von den Häusern, glänzt Le Corbusier (und sogar Chevrolet) durch Abwe-
senheit. In echt Schweizer Manier wird der berühmten Söhne der Stadt hier kaum ge-
dacht, als befürchte man, damit der Eitelkeit Vorschub zu leisten. Vielleicht sind aber
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