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Ein Mann und sein Museum
Es ist Sonntag, aber selbst für Schweizer Verhältnisse ist in Heiden nicht viel los. Vielleicht
lag das Erfolgsgeheimnis des Kurorts darin, dass man hier wirklich nichts anderes als Ru-
he und Erholung findet. Bei einem Spaziergang durch stille Straßen und über verlassene
Plätze gewinne ich den Eindruck, durch eine Geisterstadt zu wandern, bis ich am Museum
einem Menschen aus Fleisch und Blut begegne. Zum Glück ist die Dame sehr freundlich
(vielleicht freut sie sich auch, mal jemanden zu sehen) und bietet an, exklusiv für mich
den kurzen Einführungsfilm auf Englisch zu zeigen. Während wir durch den Korridor zum
Fernsehzimmer gehen, fällt mir auf, dass sie rote Schuhe trägt. Damit ist mein Tag geret-
tet. In ganz Heiden treffe ich nur eine Menschenseele, aber sie ist eine echte Schweizerin.
Das kleine Museum, in seiner Art wohl kaum zu übertreffen, liefert einen umfassenden,
aber leicht verdaulichen Überblick vom Leben dieses Mannes. In vier Räumen gelingt es,
den Menschen und seine Arbeit so gut zu erklären, dass ein recht klares Bild Dunants ent-
steht. Leider zeugt es nicht von Lebensglück. Ungeachtet seiner guten Werke und seiner
übergroßen Humanität war er, tieftraurig, verbittert, krank und einsam, als alter Mann zu-
letzt weitgehend vergessen. Ein tiefer Abstieg für einen, der von Blaublütigen bewirtet und
als Verfasser eines der einflussreichsten Werke des 19. Jahrhunderts gefeiert wurde.
Henri Dunant wurde am 8. Mai 1828 als ältestes von fünf Kindern frommer Calvinisten
geboren. Als junger Mann gründete er eine Genfer Gruppe des Christlichen Vereins Junger
Männer und trieb energisch dessen Umwandlung in eine weltumspannende Organisation
voran. Ohne ihn wäre der CVJM (alias YMCA ) vielleicht eine provinzielle englische
Wohltätigkeitsorganisation geblieben.
Aber der Höhepunkt in Dunants Leben war das Rote Kreuz. Indem seine Idee Wirklich-
keit wurde, entstanden internationales Recht und die Grundlagen für eine weltweite Zu-
sammenarbeit. Wie traurig, dass sein restliches Leben so katastrophal verlief. 1867 ging er
bankrott, und mit ihm die Bank, die er leitete. Für die Genfer Gesellschaft gab (und gibt)
es vermutlich kaum schlimmere Verbrechen, als in den Zusammenbruch einer Bank ver-
wickelt zu sein. Dunant sah sich gezwungen, aus dem Rotkreuzkomitee zurückzutreten, er
wurde aus dem CVJM ausgeschlossen und musste ins Pariser Exil gehen. Seine Heimat-
stadt sah er nie wieder. Nicht selten obdachlos und hungrig, irrte er durch Europa, ehe er,
ein kranker Eremit mit weißem Bart und langem Mantel, in Heiden strandete.
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