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Die Hochpreisinsel
Kreuzlingen ist einer jener unauffälligen Schweizer Orte, in die man nur auf der Durchrei-
se gelangt - in diesem Fall auf dem Weg zum benachbarten Konstanz. Die Stadt mit dem
Münster jenseits der deutschen Grenze war von jeher ein beliebtes Ausflugsziel für die
Eidgenossen, nicht nur wegen der Altstadt am Ufer des Bodensees, sondern auch um dort
einzukaufen. In der Konstanzer Müller-Filiale trifft man zu 99 Prozent Schweizer an, die
sich mit einem Halbjahresvorrat an Shampoo, Kosmetika und Heftpflaster versorgen. Das
weiß ich, weil ich mich manchmal unter sie mische. Aber im Jahr 2011 wurde aus dem ste-
tigen Rinnsal der Einkaufswilligen ein Tsunami, und die ersten Opfer der Sintflut waren
die Geschäftsleute von Kreuzlingen. Und ausnahmsweise einmal war der Franken schuld.
Statt Garant der Schweizer Sicherheit und Zuverlässigkeit und Quelle des Nationalstolzes
zu sein, hatte der Franken innerhalb eines Jahres in seiner Heimat eine Wirtschaftskrise
ausgelöst. Er fiel dem eigenen Erfolg zum Opfer.
Niedrige Arbeitslosigkeit, minimale Staatsverschuldung, nicht vorhandene Immobilien-
blase - während die Wirtschaft anderswo einbrach und brannte, war die Schweiz ein
Leuchtturm von Verantwortungsgefühl und Umsicht. Daher explodierte die Nachfrage
nach dem Franken. Während der Euro ebenso kollabierte wie der US -Dollar, suchten In-
vestoren Zuflucht beim grundsoliden Schweizer Franken. In nur 15 Monaten gewann er
bis zu 30 Prozent an Wert, überholte den Dollar und zog dann am 9. August mit dem Euro
gleich. Erfreulich für Schweizer auf Auslandsreisen, verheerend für die exportabhängige
Schweizer Industrie. Und ebenso schnell wie ausländische Gäste ausblieben, strömten
Schweizer Konsumenten zum Einkaufen nach Deutschland, Frankreich und Italien. Diesel-
ben Produkte zum halben Preis. Und nicht nur das, es fiel auch noch die letzte Bastion der
Schweizer Tourismusbranche - die treuen einheimischen Gäste blieben aus. Auch glühen-
de Patrioten wollten sich den Auslandsurlaub zum Schnäppchenpreis nicht entgehen las-
sen. Manchmal regiert Geld eben doch die Welt. Die robuste Schweizer Wirtschaft bekam
von allen Seiten Prügel - der Tourismus lag danieder, die Exporte brachen ein, Läden
machten pleite. Die Schweiz, ein Land, das den Banken- und Immobiliencrash überlebt
hatte, bekam einen Vorgeschmack von wirtschaftlicher Not. Nur den Schweizern gelang
es, aus dem Erfolg eine Krise zu machen.
Es war der Sommer des Missvergnügens. Als die Klagen über hohe Preise und niedrige
Gewinne lauter wurden, wollte der Bundesrat der Export- und der Tourismusbranche mit
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