Travel Reference
In-Depth Information
Überlebensfragen
Das Merkwürdige ist, dass das Debakel um die Sterbeurkunden vielen Schweizern wohl
gar nicht so absurd vorkam, weil die Bürokratie in der Schweiz eine ebenso große Rolle
spielt wie die Demokratie. Im Vergleich zum eidgenössischen Amtsschimmel halten ande-
re Staaten verspielte Ponys. Die Schweizer lieben Papier: In ihren Augen existiert nur, was
man schwarz auf weiß nach Hause tragen kann. Bewerbungen dürfen nicht bloß aus Le-
benslauf und Anschreiben bestehen, sondern müssen Kopien aller relevanten Qualifikatio-
nen und Arbeitszeugnisse enthalten. Jede Fortbildung, jede Prüfung, jede Lehre, jede Tä-
tigkeit wird am Ende schriftlich beglaubigt. Für jede ganz normale Bewerbung, Registrie-
rung oder Genehmigung sind stapelweise Kopien beizufügen: Schulzeugnisse, Universi-
tätsabschluss, Steuererklärung, Pass, Visum, Schrittlänge, Schaubild für die forensische Ge-
bissanalyse et cetera. Und das ist nur geringfügig übertrieben.
Manchmal muss man sogar dokumentieren, dass man unverheiratet ist und noch keinen
Strafzettel erhalten hat, oder den Wohnort beglaubigen lassen. All das braucht natürlich
einen amtlichen Stempel, da reicht nicht einfach eine Kopie. Selbstverständlich bekommt
man die Beglaubigungen problemlos (gegen Gebühr) bei seiner Gemeinde, wo man ja re-
gistriert ist; natürlich darf man sich nicht einfach irgendwo niederlassen, ohne die Obrig-
keit darüber zu informieren. Für eine Nation, die den Schutz der Privatsphäre hochhält,
mutet so viel Kontrolle seltsam an. Man fühlt sich fast wie in einem Polizeistaat, wenn
auch in einem von der gutmütig-übereifrigen Sorte ohne bösartige Anwandlungen. Wie
David Hampshire in seinem Schweiz-Buch schreibt, soll Solschenizyn einmal gesagt ha-
ben, die Schweizer Bürokratie sei schlimmer als die russische. Sie ist tatsächlich allgegen-
wärtig, aber die Schweizer finden das normal; sie leben damit, seit ihre Geburtsurkunde
ausgestellt wurde.
Unter den vielen Unterlagen, die jeder Schweizer braucht, spielen Versicherungsdoku-
mente eine herausragende Rolle - eine weitere Schweizer Obsession. Die niedrigen Steu-
ern werden durch Versicherungsprämien wettgemacht, die 22 Prozent des durchschnittli-
chen Haushaltseinkommens verschlingen. Versichern kann man praktisch alles, nicht nur
um noch mehr Unterlagen zu Hause zu haben, sondern um für alle Eventualitäten ge-
wappnet zu sein. Sei allzeit bereit und halte die Papiere parat, die es beweisen, lautet das
Schweizer Ethos. Vorgeschrieben sind Versicherungen für Altersvorsorge, Invalidität, Un-
fall und Arbeitslosigkeit. Beinahe ebenso unverzichtbar ist eine Privathaftpflichtversiche-
Search WWH ::




Custom Search