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deckt man zwar gelegentlich »authentische« Souvenirs oder Delikatessen zu Höchstprei-
sen, aber im Grunde sind solche Läden wie das Hilton oder Starbucks überall auf der
Welt gleich. In Schweizer Duty-free-Shops aber sah man - und sieht gelegentlich immer
noch - ein Plakat, das ebenso viel über den Schweizer Geschäftssinn aussagt wie über die
nationale Mentalität. Es tauchte auf, nachdem Duty-free-Shopping in der EU 1999 abge-
schafft wurde, und zeigt die Schweiz als Palmeninsel in einem tiefblauen Meer. Ungeach-
tet dessen waren Zigaretten, Parfum und Schnaps, ob zollfrei oder nicht, vermutlich im-
mer noch teurer als in einem Supermarkt in Mailand, München oder Manchester. Aber
die Botschaft war klar: Hier ist das letzte Refugium für den zollfreien Einkauf in Europa,
der letzte Saloon mit einem Schluck Johnnie Walker Red Label vor der Wüste.
Das Plakat zeigt, wie es die Schweiz versteht, aus ihrer Lage im Herzen Europas Kapi-
tal zu schlagen. In nicht allzu ferner Vergangenheit gab es auch weniger rühmliche Bei-
spiele dafür. Mal abgesehen von den geschäftlichen Möglichkeiten, zeigt das Plakat auch,
wie die Schweizer ihre Heimat sehen. Europaskeptiker mögen die Schweiz als Oase der
Vernunft in der Wüste paneuropäischer Einheit betrachten, die Schweizer sehen sie selbst
wohl eher als einsame Insel, wenn auch mit Bergen und Gletschern anstelle von Palmen
und Eis am Stiel (obwohl man beides auch in der Schweiz findet).
Einsame Inseln, seien sie echt oder der Phantasie entsprungen, brauchen drei wesentli-
che Merkmale, um als solche zu gelten: Meer, Strand und Einsamkeit. Sie bieten Zuflucht
vor dem Rest der Welt, hier kann man sich zurücklehnen und den Tag vorüberziehen las-
sen, während Wellen leise ans Ufer schlagen oder im Hintergrund ein paar Lieblings- CD s
laufen. Oder sie sind die letzte Überlebenshoffnung für Schiffbrüchige, die sich, in zer-
lumpter Kleidung angespült, fortan nur noch mit Dattelpalmen unterhalten können. So
oder so, solche Inseln haben in der Regel nicht das bestgenutzte Eisenbahnnetz der Welt,
den höchsten Prozentsatz an Computerbesitzern und die (nicht ganz unbestritten) beste
Schokolade. Andererseits besitzt diese einsame Insel einen Sonderstatus, nicht zuletzt
weil sie 200 Kilometer von der nächsten Meeresküste entfernt ist.
Auch wenn die Schweiz rein physisch die drei Grunderfordernisse einer einsamen In-
sel nicht erfüllt, benimmt sie sich doch seit Langem so, als wäre sie eine. Sie ist ein Zuf-
luchtsort für Leute, die es sich leisten können, und Rettungsboot für jene, die in diesem
Boot nicht zu viel Unruhe stiften. Die Schweizer Familie Robinson muss nicht einmal
Schiffbruch erleiden, um ihre einsame Insel zu finden; sie kann einfach zu Hause bleiben.
Denn der Inselstatus ist geistiger, nicht körperlicher Natur, das heißt, ihre Bewohner ha-
ben sich bewusst von der Außenwelt isoliert und, bis vor Kurzem, sehr oft auch vonein-
ander.
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