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weis. »Wenn es einem nichts ausmachte, würde es einem nichts aus-
machen.«
Doch der Schmerz birgt auch vielfältige Fallen und Gefahren, und die
Zeit verringert sie nicht. Selbstmitleid, Abkapselung, Weltverachtung,
das dünkelhafte Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein: Eitelkeit in al-
len Variationen. Seht doch, wie sehr ich leide, wie wenig man mich ver-
steht: Ist das nicht der Beweis, wie sehr ich geliebt habe? Vielleicht
ja, vielleicht auch nicht. Ich habe gesehen, wie Menschen auf Beerdi-
gungen »Trauer mimten«, und nichts könnte einen armseligeren An-
blick bieten. Trauer kann auch in Rivalität ausarten: Seht doch, wie
sehr ich sie/ihn geliebt habe, und das bezeuge ich mit meinen Trän-
en (und gewinne den Pokal). Es gibt die Versuchung, das Gefühl zu
haben und womöglich gar in Worte zu fassen: Ich bin aus größerer
Höhe abgestürzt als du - schau nur meine zerrissenen Eingeweide an.
Leidtragende fordern Mitleid, aber sie lassen sich ihre Vorrangstellung
nicht streitig machen und unterschätzen den Schmerz, den andere über
denselben Verlust empinden.
Vor fast dreißig Jahren versuchte ich in einem Roman, mir vorzustellen,
wie es wäre, wenn ein Mann Mitte sechzig zum Witwer wird. Ich
schrieb:
Wenn sie stirbt, ist man zunächst nicht überrascht. Auf den Tod gefasst zu sein, gehört bei
der Liebe mit dazu. Wenn sie stirbt, fühlt man sich in seiner Liebe bestätigt. Man hatte
das richtig gesehen. Es gehört mit dazu.
Danach kommt das Verrücktsein. Und dann das Alleinsein: nicht die spektakuläre Ein-
samkeit, die man vorausgeahnt hatte, nicht das interessante Martyrium der Witwerschaft,
sondern einfach nur das Alleinsein. Man erwartet etwas beinahe Geologisches - Sch-
windelanfälle in einem jäh abfallenden Canyon -, aber so ist es nicht; es ist einfach nur
elend, so alltäglich wie der Beruf … [Die Leute sagen] du wirst drüber wegkommen. …
Und es stimmt, man kommt drüber hinweg. … Aber man kommt nicht so drüber hinweg
wie ein Zug über die Downs: raus aus dem Tunnel, hinein in den Sonnenschein und rasch
hinabgerattert zum Ärmelkanal; man kommt heraus wie eine Möwe aus einer Öllache.
Man ist geteert und gefedert fürs Leben.
Diese Stelle habe ich bei ihrer Beerdigung vorgelesen; auf dem Boden
lag Oktoberschnee, meine linke Hand ruhte auf ihrem Sarg, meine
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