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was ich oben so pessimistisch behauptet habe. Leid kann sich schließ-
lich doch, in gewisser Weise, als ein moralischer Raum erweisen.
Obwohl sie immer antwortet, wenn ich mit ihr spreche, hat mein Vent-
riloquismus doch seine Grenzen. Ich kann mich erinnern - oder mir vor-
stellen -, was sie zu etwas sagen wird, was bereits geschehen ist oder
sich ganz ähnlich wiederholt. Aber ich kann nicht in Worte fassen, wie
sie auf neue Ereignisse reagiert. Zu Beginn des fünften Jahres brachte
sich der Sohn guter Freunde um, ein sanfter, brillanter Junge, der zu
einem sanften, zerquälten Mann herangewachsen war. Trotz meiner Er-
fahrung mit dem Leid war ich ratlos und konnte tagelang nicht richtig
auf diesen entsetzlichen Tod eingehen. Dann wusste ich, warum: weil
ich nicht mit ihr reden, nicht ihre Antworten hören, nicht unsere ge-
meinsamen Erinnerungen auleben lassen und vergleichen konnte. Zu
allen anderen Kategorien einer Gefährtin, die ich mit ihr verloren hatte,
kam eine weitere hinzu: die meiner Trauerpartnerin.
Ein Freund schenkte mir das Buch Erklärt Pereira von Antonio Tabuc-
chi. Der Roman spielt im Lissabon von 1938 und handelt in weiten Tei-
len von Tod und Erinnerung. Die Hauptigur ist ein liebender Gatte,
ein Journalist, dessen Frau einige Jahre zuvor an der Schwindsucht
gestorben ist. Der inzwischen übergewichtige und kränkliche Pereira
begibt sich in eine Klinik für Thalassotherapie, die von Doktor Cardoso
geleitet wird, der im Roman als ein schrofer und ganz dem Diesseits
verhafteter »Weiser« gezeichnet ist und seinem Patienten rät, sich von
der Vergangenheit zu lösen und zu lernen, in der Gegenwart zu leben.
»Wenn Sie so weitermachen«, warnt ihn Cardoso, »beginnen Sie sogar
noch, mit dem Bild Ihrer Frau zu sprechen.« Pereira erwidert, das habe
er immer getan und tue es noch: »Ich erzähle ihm alles von mir, und es
ist, als ob das Bild mir antwortete.« Cardoso will davon nichts hören:
»Das sind Fantasien, die Ihnen Ihr Über-Ich diktiert.« Pereiras Prob-
lem, da ist sich der Doktor ganz sicher, bestehe darin, dass er »noch
keine Trauerarbeit geleistet« habe.
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