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gestimmt, Eurydike wieder zum Leben. Also wirklich, wer soll denn das
glauben? Mein Problem war nicht das Auftreten oder das Verhalten
der Götter - das konnte ich alles leicht hinnehmen; mein Problem war
die Gewissheit, dass sich niemand, der einigermaßen bei Sinnen ist,
umdrehen und Eurydike ansehen würde, weil er sich über die Folgen
im Klaren ist. Und als wäre das noch nicht genug, sollte die Rolle des
Orpheus, ursprünglich ein Kastrat oder Kontratenor, aber heutzutage
eine Hosenrolle, in dieser Inszenierung von einer beleibten Altistin
gespielt werden. Aber ich hatte Orpheus , diese Oper, die geradezu per-
fekt auf die Leidtragenden zugeschnitten ist, ziemlich unterschätzt, und
so tat die Kunst in diesem Kino wieder einmal ihr Wunderwerk. Natür-
lich musste Orpheus sich nach der lehenden Eurydike umdrehen - wie
könnte es anders sein? Denn obwohl »niemand, der noch bei Sinnen
ist« das tun würde, ist er vor Liebe und Leid und Hofnung völlig von
Sinnen. Man verliert die ganze Welt um eines Blickes willen? Aber klar
doch. Dazu ist die Welt doch da: damit man sie unter den richtigen
Umständen verliert. Ist es überhaupt denkbar , dass man sich an sein
Gelübde hält, wenn man Eurydikes Stimme hinter sich hört?
Die Götter erlegen Orpheus Bedingungen auf, als er in die Unterwelt
hinabsteigt; er muss sich auf den Handel einlassen. Der Tod fordert uns
häuig zum Feilschen heraus. Wie oft haben wir in Büchern gelesen,
in Filmen gesehen oder in der allgemeinen Erzählung des Lebens ge-
hört, dass jemand Gott - oder sonst einem höheren Wesen - verspricht,
sich soundso zu benehmen, wenn er nur ihn oder seinen geliebten
Menschen oder gleich alle beide verschont? Als ich an die Reihe kam -
in jenen angsterfüllten 37 Tagen -, war ich nie versucht zu feilschen,
weil es in meinem Kosmos niemanden gab und gibt, mit dem ich hätte
feilschen können. Würde ich alle meine Bücher für ihr Leben geben?
Würde ich mein eigenes Leben für ihres geben? Das Ja ist leicht gesagt:
Solche Fragen waren rhetorisch, hypothetisch, opernhaft. »Warum?«,
fragt das Kind. » Warum ?« Der unnachgiebige Erwachsene antwortet
einfach: »Darum.« Und so murmelte ich, während ich auf diese Eisen-
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