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darüber hinausgehende, aber damit verbundene Frage: Wie soll ich jet-
zt leben? Ich muss so leben, wie sie es gewollt hätte.
Nach einigen Monaten wagte ich mich wieder in die Öfentlichkeit und
ging ins Theater, ins Konzert, in die Oper. Aber ich stellte fest, dass
ich eine panische Angst vor dem Foyer entwickelt hatte. Nicht vor dem
Raum an sich, sondern vor dem, was darin war: fröhliche, erwartungs-
volle, normale Menschen, die sich auf einen schönen Abend freuten.
Ich konnte die Geräusche und den Anblick friedlicher Normalität nicht
ertragen: Das waren nur weitere Busladungen von Menschen, die das
Sterben meiner Frau nicht berührte. Freunde mussten mich vor dem
Theatergebäude abholen und wie ein Kind an meinen Platz führen. Dort
angekommen, fühlte ich mich sicher, und wenn das Licht ausging, noch
sicherer.
Das erste Theaterstück, in das man mich ausführte, war Ödipus , die
erste Oper Elektra von Richard Strauss. Doch während ich diese
grausamsten aller Tragödien über mich ergehen ließ, in denen die Göt-
ter menschliche Vergehen mit unerträglichen Strafen ahnden, fühlte
ich mich nicht in eine ferne, längst vergangene Kultur versetzt, in der
Furcht und Mitleid herrschten. Stattdessen war mir, als kämen Ödipus
und Elektra zu mir, in mein Land, in die neue Geograie, die ich jetzt
bewohnte. Und ich entdeckte eine ganz unerwartete Liebe zur Oper.
Die längste Zeit meines Lebens war das für mich eine der unverständ-
lichsten Kunstformen gewesen. Ich begrif nicht recht, was da eigent-
lich vor sich ging (obwohl ich leißig die Zusammenfassung der Hand-
lung gelesen hatte); ich war voreingenommen gegen die Leute, die da
im Smoking beim Picknick saßen und dieses Genre anscheinend als ihr
Eigentum betrachteten; vor allem aber konnte ich mich nicht in diese
andere Welt hineinversetzen. Opern kamen mir wie zutiefst unglaub-
würdige und schlecht konstruierte Theaterstücke vor, in denen sich die
Figuren alle gleichzeitig anschrien. Das erste Problem - das der Ver-
ständlichkeit - wurde durch die Einführung von Übertiteln behoben.
Doch jetzt, in der Dunkelheit des Zuschauerraums und der Dunkel-
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