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Jahren hielt ich ein abgestoßenes Schwarz-Weiß-Foto von 1912 in den Händen,
das in der Nähe unseres Dorfes aufgenommen worden war. Es zeigt eine Gruppe
von etwa fünfzehn Personen, die am Strand um eine Picknickdecke herum für ein
Foto posiert. Die älteren Frauen tragen hochgeschlossene schwarze Kleider, die
Männer Dreiteiler und Hüte. Die jungen Leute und die Kinder sind nicht weniger
formell gekleidet, doch sind die Kleider der Mädchen hell und gemustert,
während die Jungs die Krawate weggelassen haben. Sie trinken Wein, und ob-
wohl fast alle, so wie es den Geplogenheiten der Zeit entsprach, für die Fotoauf-
nahme einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, scheinen sie diesen
Auslug ans Meer und an die Sonne zu genießen.
Oursinade , Seeigelessen, heißen solche Picknicks, bei denen die Männer ins
Wasser steigen und die weiblichen braunen Seeigel (nicht die blauschwarzen, das
sind die männlichen) mit Messern von den Felsen schneiden. Sie sammeln sie in
Körben, die Frauen öfnen sie, und dann verzehren alle zusammen genüsslich
deren gelblich orangefarbenen Inhalt.
Essbar sind nur die Eierstöcke der Seeigelweibchen, die in ingerartigen Wül-
sten an der Innenseite der Schalen kleben. Ich persönlich bekomme die intensiv
nach Fisch schmeckende, körnig-weiche Masse nicht hinunter, aber Kenner
schwören auf diesen »Seeigelkaviar« - allerdings nur auf selbst geernteten. Übri-
gens sieht man noch heute an Feiertagen ab und zu Gruppen, die sich zu einer
Oursinade am felsigen Meeresufer trefen, allerdings nicht mehr im Son-
ntagsstaat, sondern in Bikini oder Badehose.
Früher fragten die Männer aus unserem Dorf ihre Ehefrauen, welchen Fisch sie
sich fürs Abendessen wünschten, bevor sie in aller Frühe aufs Meer fuhren:
chapon (auch rascasse genannt, auf Deutsch heißt er Drachenkopf), dentice (Meer-
brasse), rouget (Rotbarbe), loup (Wolfsbarsch), anguille (Aal) oder vielleicht lieber
ein paar Langusten? Das Meer war so ischreich, dass es ein Leichtes war, sich
das gewünschte Exemplar zu angeln und die anderen Edelische weiterschwim-
men zu lassen. Véronique LaSassa zum Beispiel isst bis heute nicht gern Lan-
gusten. Sie hat als Kind zu viele davon vorgesetzt bekommen. »Wir bekamen sie
anstat eines Pausenbrotes sogar mit in die Schule!«, erzählt sie und verdreht die
Augen. Es muss ein wahres Schlarafenland gewesen sein. Natürlich gibt es im-
mer noch Berufsischer, aber der Job ist hart geworden. Das Meer ist so leer, dass
in den Geschäten ot Ware aus dem Atlantik, aus Afrika, Asien oder sonst woher
liegt. Und um die kärgliche Beute, die trotzdem in den Netzen der korsischen Fis-
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