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den pinkfarben leuchtenden Oleandersträuchern (» quelle merveille! «), die das
karge Gelände begrenzen. Sie kann kaum noch laufen, und ihre Augen lassen
nach. Ihr Geist aber ist so beweglich wie eh und je.
Ist man mit ihr verabredet, empfängt sie sorgfältig geschminkt und parfümiert.
An ihren Armen klimpert erlesener Modeschmuck, um die Schultern hat sie eine
seidene Stola drapiert. Ich fahre mit ihr zum déjeuner (Mitagessen) in das beste
Restaurant im Ort. Dort bestellt die Frau, die in ihrem Leben mehr Champagner
getrunken hat als Sie, liebe Leser, und ich zusammen, Orezza , korsisches Mineral-
wasser. Von ihrem Entrecôte cuisson bleu (nur so kurz gegrillt, dass es noch blutig
ist) nimmt sie nur winzige Stückchen. Dann kommt sie ins Erzählen - allerdings
sind es diesmal keine Geschichten aus der glamourösen weiten Welt, sondern
Erinnerungen an ihr Leben auf der rauen, wunderbaren Insel Korsika.
Geschichten wie diese: Ihre Muter ärgerte sich jahrelang, dass ein Unbekannter
jedes Mal den Aprikosenbaum in ihrem Garten plünderte, sobald die Früchte reif
waren. Als Täter kam nur der Nachbar infrage, mit ihm hate Véroniques Muter
zwar in ihrer Jugend die Schulbank gedrückt und den einen oder anderen Liebes-
brief ausgetauscht, aber man kann ja nie wissen. Schließlich hate niemand im
Dorf so süße Aprikosen wie sie im Garten, da wäre es nur logisch, wenn er sie
darum beneidete. Eines Nachts nahm sie das Jagdgewehr ihres Mannes vom
Haken hinter der Eingangstür und legte sich damit auf die Lauer. Stundenlang
passierte nichts, nur die Bläter des Aprikosenbaums erziterten jedes Mal leicht,
wenn der einzige Esel im Dorf in sein krächzendes Iah ausbrach. Auf einmal je-
doch hörte sie ganz in der Nähe jemanden laut und vernehmlich schnaufen. »Das
muss er sein«, dachte Véroniques Muter und legte die Flinte an. Doch was trat
da aus dem Gebüsch in das silberne Mondlicht? Das war nicht ihr Nachbar, son-
dern ein riesiges Wildschwein. Es senkte seinen Kopf, nahm Anlauf und rammte
den Aprikosenbaum mit voller Wucht. Wie ein Platzregen prasselten die reifen
Früchte von den Ästen, und das Tier fraß sie grunzend auf. Anschließend wieder-
holte es die Prozedur so ot, bis keine einzige Aprikose mehr am Baum hing. Vor
lauter Überraschung kam es Véroniques Muter nicht in den Sinn, das Wildsch-
wein zu erlegen und so wenigstens das Abendessen zu sichern.
Véronique liebt die milden Winter Korsikas. Als sie noch in ihrem Haus
wohnte, kam es vor, dass sie im Dezember in einem kurzärmeligen Katan auf
ihrer Terrasse saß und die Wintersonne genoss. Sie schnit sich eine der letzten
noch blühenden Rosen aus ihrem Garten ab und stellte sie in eine Vase. Unter
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