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Einige Meter entfernt steht der Barmann hinter dem Tresen seines von prächti-
gen Platanen beschateten Cafés. Sein Hemd trägt er wie immer fast bis zum
Bauchnabel aufgeknöpt, eine Goldkete blitzt aus seinem dichten grauen
Brusthaar hervor. Er poliert mit gerunzelter Stirn ein Glas, mir fällt auf, dass
hinter ihm im Regal neben den bunten Siruplaschen, die mir als Kind so ver-
heißungsvoll erschienen waren, und mehreren Sorten Pastis nun auch eine
Flasche mit korsischem Whisky steht. Als der Barmann mich sieht, hellt sich sein
Gesicht auf. Küsschen rechts, Küsschen links. » Bonjour, ça va ? Endlich Ferien?«,
fragt er. Nicken meinerseits. Lächelnd wechseln wir ein paar Worte.
Ich überquere den Dorfplatz, wo ich den Straßenkehrer begrüße, der stets den
gleichen dunkelblauen Mao-Anzug trägt und sorgfältig einige welke Platanen-
blätter beiseitefegt. Ich winke dem Pizzabäcker zu, der gerade auf der Stirnseite
des auf drei Seiten von steil aufragenden Steinhäusern eingefassten Platzes die
Eiskarte vor seinen Imbiss stellt. Ein Kopfnicken gilt dem Postboten, der ein
wenig außer Atem geraten ist, weil er mit seiner schweren Tasche aus dem unter-
en Teil des Dorfes zum oberen heraufgekletert ist, der nur durch viele steile
Stufen zu erreichen ist. Auf dem Weg durch die schmalen Gassen begegne ich
außerdem dem Bürgermeister, der obendrein Restaurantbesitzer ist; der Inhaberin
einer der zwei Pensionen des Ortes und drei beinahe hundertjährigen Damen,
von denen zwei ihren Geburtsort nie verlassen haben, während die drite zu
Zeiten des Schahs von Persien in Teheran die Filiale eines bekannten Pariser
Modehauses leitete. Mit allen halte ich kurze Schwätzchen, die alle mit der
Formel beginnen: » Bonjour ! Wie geht's?«
Als Letztes komme ich zur Alimentation , dem Lebensmitelgeschät, das von
Pauline und ihrer Tochter Sandrine geführt wird. Wir kommen ins Plaudern, und
weil mein Babybauch nicht mehr zu übersehen ist, erkundigt sich Pauline, wann
es denn so weit sei. »Im Herbst«, antworte ich, und da geschieht es: Sie zählt
begeistert an ihren Fingern ab, wer vor Jahresende noch alles Muter werden
wird: »Joséphine, Emma, Marie-Ange, Laetitia… und du! Dann haben wir im
Dorf ja bald fünf Babys!«
Habe ich richtig gehört? Hat Pauline gerade »wir« gesagt? Das würde ja
bedeuten, dass sie meinen ungeborenen Sohn und mich selbstverständlich als
Dorbewohner mitzählt. Trotz meines statlichen Babybauches fühle ich mich auf
einmal ganz leicht. Denn für mich ist dieses kleine korsische Dorf schon lange
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