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sind: im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und in den beiden Weltkrie-
gen.
Auch die kulturelle Bedeutung des Platzes hat zwei Seiten, eine helle, sicht-
bare, dem Vergnügen zugewandte und eine dunkle, unsichtbare, eng mit den
blutigen Landessiten verquickte - am St. Nicolas begegnen sich zwangsläuig die
Mitglieder verfeindeter Clans. Am Wochenende werden hier ot Flohmärkte und
Messen abgehalten oder blinkende Karussells für Minijahrmärkte aufgebaut. Die
eng aneinandergereihten Cafés auf der lang gestreckten Westseite sind
Trefpunkt der Einheimischen. Unmöglich vorherzusagen, welches von ihnen
gerade bevorzugt und welches links liegen gelassen wird. Die Moden wechseln,
nicht aber die Cafés und Restaurants selbst. Holzvertäfelte Wände, marmorne
Böden und antike Tresen atmen den Geist längst vergangener Zeiten.
Wir gehen ins Café Des Palmiers. Frühmorgens, nach unserer nächtlichen
Überfahrt mit der Fähre, ist es noch leer, nur die Kellner stehen bereit und warten
mit blütenweißer Schürze, weißem Hemd und schwarzer Anzughose auf die er-
sten Gäste. Die alte Gastronomieschule. Ein richtiges Frühstück darf man, wie
überall in Frankreich, allerdings nicht erwarten. Wenn man Glück hat, bekommt
man ein Croissant, wenn nicht, dann begnügt man sich mit einem grand crème ,
einem großen Milchkafee, und geht hinterher in eine Bäckerei und versorgt sich
mit frischen Butercroissants, Rosinenschnecken oder anderen süßen Teilchen.
Erst am frühen Abend, zur Stunde des Aperitifs, erwacht das Leben auf dem
Platz. Dann lanieren hier kichernd die Schönheiten der Stadt, gekleidet in der
neuesten Mode aus Paris. Junge Ehepaare rufen ihren Nachwuchs zur Ordnung,
ältere Damen tauschen den neuesten Klatsch aus. Was man nicht sieht, sind die
stummen Tragödien, die sich hier abspielen. Hier senken die Witwen ermordeter
Clanmitglieder den Blick, wenn sie den Frauen der Täter begegnen, die sie ot ein
ganzes Leben lang kennen. Hier würdigen sich Männer demonstrativ keines
Blickes, weil ihre Familien seit Jahrhunderten verfeindet sind. Hier vollführen
junge Kerle Demutsgesten gegenüber mächtigen Alten. Außenstehende bekom-
men nicht das Geringste davon mit, alles geschieht mit äußerster Diskretion. Kor-
sika ist eine geschlossene Gesellschat, das Gesetz des Schweigens ist Jahrhun-
derte alt und gilt heute so viel wie zu allen Zeiten. Wer die Codes nicht kennt,
bleibt außen vor. Als Besucher wird man mit all dem nicht behelligt. Weder auf
der Place St. Nicolas noch anderswo.
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