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Moment, schoss es Helene durch den Kopf, als sie begrif, wer da vor ihr stand, in
welchem Jahrhundert sind wir gerade? Das hier ist doch ein ganz normaler
Juliabend im Jahr 2005, ich bin mit dem Auto und nicht mit dem Esel gekommen,
und dieser Mann trägt keine verilzte Wollkute und kein Jagdgewehr. Natürlich
kannte sie die Geschichten der Alten. Aber das waren Geschichten aus längst
vergangenen Zeiten! Legenden von Banditen auf der Flucht, die nachts aus der
Macchia kamen und von den korsischen Landbewohnern Hilfe einforderten. Sie
öfneten selbstverständlich ihre Tür, das geboten die Ehre und die Tradition. Ein
Korse hilt seinen korsischen Brüdern, so war es immer gewesen. Wenn die Gen-
darmen dann in die Berge ausschwärmten und auf der Suche nach den Banditen
die Macchia durchkämmten, hate selbstverständlich niemand die Täter gesehen.
Unbeeindruckt lag die ewige Landschat unter der südlichen Sonne, und deren
Bewohner schwiegen wie ein Grab.
So weit die Vergangenheit. Aber das hier war die Gegenwart. Banditen, erst recht
ehrenwerte, waren seit Langem ausgestorben. Doch nun stand ein Mann, der of-
fensichtlich auf der Flucht war, aus welchem Grund auch immer, in Helenes Vor-
garten und zählte auf ihre Unterstützung. Helene wusste, dass sie keine Wahl
hate, sie musste ihm helfen. Sie würde alles tun, was er von ihr verlangte, und
sie würde auch später nicht die Polizei rufen. Oder wollte sie riskieren, dass der
Korse sich an ihr und ihrer Familie für die unterlassene Hilfeleistung rächte? So
funktioniert das auf Korsika - bis heute. Korsen gegen pinzuti (Festlandfran-
zosen). Und die Steigerung: Korsen gegen französische Polizisten.
Helene funktionierte wie auf Autopilot, sie war ganz ruhig.
»Hier gibt es kein Versteck«, sagte sie und zeigte auf ihr Auto, »aber ich kann
Sie fahren, wohin Sie wollen.«
»Also los«, sagte der Mann.
Sie stiegen ein, Helene verabschiedete sich von den Touristen, die keinen
Schimmer haten, was sich da gerade abspielte, und murmelte etwas von »Auto-
panne, muss ihm helfen«. Der Mann ließ sich schwer auf den Beifahrersitz fallen,
er schien nichts bei sich zu haben, auch keine Wafe. Kaum hate Helene den Mo-
tor angelassen, ertönte ein Warnsignal, es war kaum noch Benzin im Tank, sie
fuhren auf Reserve. »Schauen Sie«, sagte Helene zu dem Fremden, »damit kom-
men wir nicht weit.« Sie einigten sich, dass Helene den Mann in ein Bergdorf in
der Umgebung fahren sollte. »Darf ich Ihr Handy benutzen?«, fragte der Mann;
als Helene bejahte, tippte er eine Nummer ein und sagte zu dem Angerufenen,
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