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Wo Banditen in grünen Palästen hausen
Heute schwärmen korsische Teenager für Sänger oder Schauspieler, früher
schwärmten sie für Banditen. Es gibt unzählige Fotograien, auf denen diese wie
Stars posieren: statlich, breitbeinig, schwer bewafnet, ein Siegerlächeln auf den
Lippen. Dazu muss man wissen: Ein korsischer Bandit war kein gewöhnlicher Ver-
brecher. Diese Männer haten zwar das Gesetz gebrochen, aber nur, weil sie eine
Vendeta, einen Ehrenmord, ausgeführt haten. Deshalb waren auch sie Ehren-
männer, und die Solidarität und Bewunderung der Bevölkerung waren ihnen sich-
er. Inzwischen gelten Banditen zwar nicht mehr als Stars, aber noch immer
können sie auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen.
Es war wieder mal spät geworden im Büro. Als Helene endlich in ihr Auto stieg
und die sieben Kilometer auf der Landstraße nach Hause fuhr, war es weit nach
22 Uhr. Sie bog in den unbefestigten Feldweg ein, der zu ihrem Haus führt. Es liegt
direkt am Meer, nur ein kleines Wäldchen trennt es von einem kilometerlangen
Sandstrand. Weil es Sommer war, hate Helene einen Teil ihres Hauses an
deutsche Touristen vermietet, die kein Wort Französisch sprachen, aber Korsika
liebten, Helenes Heimat.
Schon von Weitem konnte sie im difusen Licht der Außenbeleuchtung sehen,
dass ihre Mieter nicht alleine waren. Vor ihnen auf der Terrasse stand ein Mann,
der wild gestikulierend auf sie einredete. Die Deutschen wirkten ratlos. Helene
trat näher. Der Mann war jung, Anfang zwanzig vielleicht, und trug die Klut der
jungen Korsen vom Land: ein T-Shirt mit irgendeinem Aufdruck und unförmige
Shorts, dazu Turnschuhe. Als er sie bemerkte, wandte er sich ihr zu und sagte ein-
en Satz, dessen Tragweite Helene erst vollständig erfassen sollte, nachdem alles
vorbei war: »Sind Sie Korsin?« »Ja«, antwortete Helene, das stimmte zwar nicht
ganz, aber sie fühlte sich so, denn auch wenn sie eigentlich Deutsche war, war sie
doch in diesem einsamen Haus an der Küste aufgewachsen. Sie war im nächst-
größeren Ort zur Schule gegangen, und nun arbeitete sie hier. »Dann müssen Sie
mich verstecken«, sagte der Fremde, und erst jetzt bemerkte Helene, dass sein T-
Shirt nass geschwitzt war und ihm der Schweiß tropfenweise über die Stirn lief.
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