Travel Reference
In-Depth Information
Es soll aber auch Korsen geben, die das alles locker sehen. So jemanden habe
ich zwar in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht kennengelernt, aber man
erzählt sich, dass diese Leute angeblich der Meinung sind, dass jeder, der zwei
Winter auf der Insel verbracht habe, sich Korse nennen dürfe. Dazu muss man
wissen, dass der Winter auf Korsika eine Herausforderung ist. In unserem Dorf
schrumpt die Bevölkerung vorübergehend von 200 auf 30 Bewohner, davon ist
gut die Hälte über 80 und wird von mobilen Plegekräten betreut. Der Wind
heult um die Häuser, die selbstverständlich keine Heizung und keine doppelt ver-
glasten Fenster haben. Hungrige Katzen streunen umher auf der verzweifelten
Suche nach Essbarem und stoßen Laute aus, die eher nach Monster als nach
Miezekatze klingen. Wer also nicht dableiben muss, der lieht aufs Festland oder
zumindest in die großen Städte Bastia und Ajaccio. Die wenigen anderen halten
die Stellung, wobei die Tage vor allem durch ein Ritual strukturiert werden: den
Aperitif vor dem Mitagessen, der immer statindet, egal, ob es stürmt oder
schneit. Letzteres kommt zwar selten vor, liegt aber dennoch im Bereich des
Möglichen. Die Männer des Dorfes trefen sich am Tresen des einzigen Cafés, das
nicht geschlossen ist, trinken einen Pastis oder ein Glas Rosé und tauschen die
neuen und allerneuesten Neuigkeiten aus. Und die Frauen? Die stehen zu Hause
am Herd und bereiten das Essen zu. Wer das zwei Jahre lang durchgestanden hat,
der darf sich also auch Korse nennen. Verdient, würde ich sagen.
Der »Korse« ist also ein höchst hybrides Wesen, das heute intensiver denn je
dabei ist, sich seine Identität aus unterschiedlichen Elementen zusammen-
zupuzzeln. Die Nationalisten tun gerne so, als handle es sich dabei um eine lin-
eare Erzählung, tatsächlich ist das, was im Diskurs um die kulturelle Selbstbe-
hauptung der Korsen corsitude genannt wird, das Ergebnis zahlreicher Wendun-
gen der Geschichte, der Moden und der Weltanschauungen.
Trotzdem wird niemand leugnen wollen, dass es die Korsen gibt. Niemand
außer den Franzosen, die sich lange nicht mit dieser Tatsache anfreunden kon-
nten. Weil nicht sein kann, was von Rechts wegen nicht sein darf, ignorierten sie
oiziell die Existenz des korsischen Volkes. Sie taten so, als wären die Korsen
Franzosen wie alle anderen auch, als gäbe es keine Unterschiede. 200 Jahre lang
scherte man Korsen und Kontinentalfranzosen über einen Kamm. Glücklich war-
en die Korsen darüber nie, aber in neuerer Zeit nahm ihre Rebellion extreme Aus-
maße an: Seit 1983, kurz nach der Verabschiedung des ersten Autonomiestatutes
im Jahr zuvor, gingen separatistische Gruppierungen auf die Barrikaden: Auto-
Search WWH ::




Custom Search