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Christus, die Nummer 33
Dem Alltag entlieht man für ein paar Minuten auch bei der Loto- und Totoan-
nahmestelle. Die Italiener sind in antiker Tradition ein Volk von Spielern. Sein
Glück muss man herausfordern. Beim Fußballtoto, aber mehr noch beim Loto.
Und Neapel ist die Spielhauptstadt Italiens. Es geht beim (alten) Loto darum,
bestimmte Zahlenkombinationen zwischen 1 und 90 für verschiedene »Rollen«
zu erraten, die in verschiedenen Städten gespielt werden. Ein Piemonteser wird
auf der Turiner Rolle spielen, der Römer vermutlich auf der römischen - aber vi-
elleicht auch auf der Mailänder sein Glück versuchen. Der Neapolitaner setzt
ausschließlich auf die Neapels. Mit welchen Zahlen? Das Glück, so glaubt man in
Neapel, kann man dem Alltag abzwingen, wenn man ihn nur richtig deutet.
Zeichen gibt es zuhauf, man muss allerdings wissen, welche Zahl jeweils dazuge-
hört. Und meist geben die eigenen Träume einem die richtigen »Zeichen«. Wer
einen Friedhof träumt, der setzt auf eine 1, der Nachtopf gilt als 27, Christus als
33, Pulcinella (die berühmte komische Figur aus der commedia dell'arte ) als 75.
Wer welche Eingebung hat und wie gar ein Traum zu deuten ist, in dem Chris-
tus als Pulcinella verkleidet erscheint - soll ich nun auf die 33 oder die 75 set-
zen? -, dafür gibt es seit mehr als 100 Jahren, seitdem in Neapel Loto gespielt
wird, die Figur des Bild- und Traumdeuters, des sogenannten assistito (desjeni-
gen, der einem beisteht). Gegen eine kleine Gebühr interpretiert dieser assistito
jeden Traum. Man kann ihn sogar beautragen, stellvertretend für einen selbst zu
träumen. Natürlich gibt es Reklamationen, wenn die Zahlen dann doch nicht
stimmen, aber meistens kann der assistito in lauten und gestenreichen Diskus-
sionen seine Kunden davon überzeugen, dass sie in ihrer Erzählung ein wichtiges
Detail zu erwähnen vergessen haben, oder er wird auf andere Hakenschläge des
Schicksals verweisen.
Wenn einmal eine Zahl monatelang nicht autaucht - die 34 (der »Dickkopf«)
ließ einmal drei Jahre auf sich warten -, ist ganz Neapel in Aufregung. Da hilt es
meistens auch nicht, auf Holz zu klopfen oder, wie man in Italien sagt, tocca ferro ,
das (Huf-)Eisen zu berühren. Toto (der Fußball- oder Rennsportfachmann ist ge-
fragt) und das klassische Loto sind weit mehr als reine Glücksspiele. Das Glück
(die richtigen Zahlen) kann und muss man sich irgendwie erarbeiten, und ein
Lotogewinn wird deshalb auch als eine Art Verdienst angesehen. Einen Lot-
toschein auszufüllen und abzugeben ist in Neapel auch keine Privatveranstal-
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