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ano Celentano konnte bei einem Gastautrit in langen Monologen gegen Kirche
und Gesellschat wetern. Da wurden Erinnerungen wach. Celentanos Titel
»Azzurro« (1968) ist einer jener Songs, die italienische Musikgeschichte ges-
chrieben haben. Ein leichter, etwas melancholischer Marsch-Rhythmus (die
Musik stammt von Paolo Conte) passend zu einer Eisenbahnfahrt zur Geliebten,
um die es an diesem warmen, azurblauen Nachmitag geht (den Text hat Vito Pal-
lavicini geschrieben), und dazu die rauchige Stimme von Adriano Celentano. Ach,
1968…
Große cantautori - Liedermacher - wie Giorgio Gaber, Fabrizio De André, Lucio
Battisti oder Lucio Dalla sind gestorben, und so recht wächst niemand nach. Das
Festival hat dabei immer eine Brücke zwischen dem Schlager und dem Chanson
geschlagen, was lange seine Stärke ausmachte. Gianna (heute 27) und Mara (25)
standen viele Jahre eher auf Jennifer Lopez, Madonna oder auf die Gruppe U2. In
der Sanremowoche hockten wir jedoch gemeinsam vor dem Fernseher, und ich
hörte die Kommentare meiner beiden Teenager: »Max Gazzè, ist der nicht süß?«
Da sah ich schon solche jungen Männer als Schwiegersöhne ins Haus kommen.
Aber der Geschmack meiner Kinder hat sich im Laufe der Jahre (zum Glück) ver-
schoben. Max Gazzè ist passé - und Sanremo gucke ich inzwischen ohne Töchter.
Fester Bestandteil des Festivals sind die Debaten im Vorfeld um den Entertain-
er, der die Abende präsentieren soll. Aufgeregt werden die Kandidaturen der Ass-
istentinnen diskutiert, die dem Entertainer (meistens ist es ein Mann) auf der
Bühne hinterhertrippeln dürfen. In Deutschland würde man das als frauenfeind-
lich und geschmacklos abtun, was im italienischen Fernsehen unumgänglich
scheint: Die blonde, unablässig lächelnde Assistentin des Moderators ist seit den
Fünfzigerjahren eine Institution, zu der sich inzwischen - jedenfalls beim Festival
von Sanremo - auch eine brünete gesellt hat - der ausgleichenden Gerechtigkeit
wegen.
Von September an werden diese Debaten auf den Kulturseiten der italienis-
chen Zeitungen geführt. Hier wird Sanremo mit dem gleichen Ernst behandelt
wie etwa eine Saisoneröfnung der Mailänder Scala. Kürzlich war ich wieder in
der freundlichen Stadt an der ligurischen Riviera, die immerhin rund 70000 Ein-
wohner zählt, und habe mir endlich einmal das Teatro Ariston von innen angese-
hen. Welche Entäuschung: Es ist ein großer, aber nichtssagender Kino- und
heatersaal. Aber im Fernsehen, der Traumfabrik Italiens, erscheint er wie eine
leichte, wolkige Landschat. »Volare…«
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