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die Suche nach dem Konsens trotz gleichsam angeborener Debatierlust
»typisch« italienische Eigenschaten.
Der »Stinkstiefel«
Typisch italienisch ist jedenfalls, dass man schlecht über sich selbst redet, wie
man es anderen nie gestaten würde. Sind Italiener »gute Menschen«? Dumme
Frage, möchte man meinen. Ein Landsmann wie der Erfolgsautor Andrea Ca-
milleri will gar nicht leugnen, dass es unter seinen Mitbürgern eine Menge guter
Menschen gibt. Aber die Emigranten, »die täglich an unseren Küsten landen«,
wären »mit dieser Deinition nicht einverstanden«. Während der Ära Berlusconi
hat Camilleri kleine bissige Texte geschrieben, die auf Deutsch unter dem Titel
»Was ist ein Italiener?« als Buch erschienen sind. Und er lässt kein hema aus:
Faschismus heute? »Vierundsechzig Jahre Demokratie haben nicht genügt, um
das Blut der Italiener zu reinigen.« Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens?
Die unterrichtet in einer Schule, »die die Italiener nie besucht haben«. Bildung?
»Der Italiener ist vor allem eingebildet.« Und so geht das munter weiter. So viel
vernichtende Selbstkritik, wie die des fast neunzigjährigen Camilleri, der wie mit
einem Surbret über den langen Wellen des Volkscharakters von der staatlichen
Einigung im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart kurvt, ist dennoch ungewöhn-
lich. Es gipfelt in der Beschreibung des Ideals eines Berlusconi-Italieners. Der
möchte ein motorino sein, also wie die Mopeds durch den Verkehr wuseln, rote
Ampeln und Einbahnstraßen missachten und darauf vertrauen, dass die Pol-
izisten sowieso weggucken: »Ihre Bewegung ist ein einziger Verstoß gegen die
Regeln. Sie dürfen alles.«
Ach ja, Berlusconi. Über das, was er seinem Land im Inneren angetan hat, mögen
die Italiener selbst urteilen (siehe auch Seite 150). Aber wie er das Bild Italiens im
Ausland ruiniert hat, ist kaum noch zu beschreiben. »Stinkstiefel« haben die
Medien das Land genannt. Der Staat würde am Boden liegen, die Politik korrupt
sein und die Wirtschat vor dem Kollaps stehen, während die Regierenden
lockere Feste feierten. »Italien, was hast du bloß aus dir gemacht?«, lautete eine
Schlagzeile aus dem Jahr 2008. Italien sei unverschämt teuer, lasse seine Kunst-
schätze verkommen und schüte die schönsten Landschaten mit Beton zu. Zwei
Schweizer Journalisten schrieben damals im Magazin der »Süddeutschen Zei-
tung« einen Artikel unter der Überschrit »Lecko mio«: Es sei »aus, Schluss, i-
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