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wieder auleben lassen soll. Man schimpt laut über die Diebe in der Regierung
( ladri! ) und das langweilige Fernsehprogramm von gestern ( che noia! ). Studenten
tauschen ihre Notizen aus. Am Brunnenrand stehen zwei Jugendliche, die bereits
am Morgen hier gestanden haben und vielleicht noch später hier stehen wer-
den - auf der Piazza kann man einen ganzen Tag verbringen. Wer weiß, was hier
heute alles ausgeheckt worden ist, welche Geschäte verhandelt worden sind,
welche Tragödien von hier ihren Ausgang nehmen oder welches Glück?
Aus einem ofenen Fenster hört man Rossiniklänge, und plötzlich versteht man,
warum so viele Opern auf einer Piazza spielen, warum Italien, Oper und Piazza
zusammengehören. Und warum nur in Italien ein ganzer Opernraum, wie das
Aldo Rossi mit dem Innenraum des Teatro Carlo Felice von Genua gemacht hat,
postmodern als Piazza gestaltet werden konnte. Auf irgendeinem dieser Stühle
der Piazza von Urbino hat früher einmal Wolfgang Hildesheimer gesessen und
sich vermutlich köstlich amüsiert. Così fan tute e tuti .
Venedig und Florenz
Unter der Plasterung der venezianischen campi stößt man auf eine ganz überras-
chende Geschichte. Sie erzählt von der Entstehung dieser zunächst zweitk-
lassigen urbanen Räume im mitelalterlichen Venedig, als die Herrschaten nicht
zu Fuß gingen, sondern sich mit der Gondel über die Wasserwege in der Stadt be-
wegten. Gassen zwischen den Palazzi blieben ebenso ungeplastert wie die freien
Flächen, kleine Felder ( campi ), die sich meist um die Kirchen der über 100 im
Stadtgebiet verstreuten Sprengel erstreckten. Auf ihnen standen Regen-
wasserzisternen, weideten Tiere, wuchs Gemüse, und hier begrub man seine
Toten. Während die Fassaden der Kirchen wie die der Palazzi in der Regel zu den
Kanälen hin ausgerichtet waren, lagen die campi auf ihrer Rückseite. Erst als mit
den Bautätigkeiten der Renaissance die Sprengel näher aneinanderrückten und
die Freilächen langsam mit Steinen geplastert wurden, verlagerten einige
Kirchen ihre Fassaden zu den jetzt durch die Plasterung geadelten campi . Wenn
man auf einem dieser campi und besonders auf der Piazzeta vor dem Dogen-
palast steht, tauchen manchmal Schreckensvisionen auf: riesige Kreuz-
fahrtschife, die ganz wie Gespenster dicht an den Uferbefestigungen
vorbeigleiten. Sie sind realer Ausdruck einer Tourismusindustrie, die zerstört,
was sie am Leben hält. Wann stoppt Venedig diesen Wahnsinn?
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