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Kirche und Gesellschaft
Eine portinaia , eine Portiersfrau, ist im Prinzip eine ganz nützliche Einrichtung.
Sie begrüßt freundlich Gäste oder Handwerker, weist ihnen den Weg zum Fahr-
stuhl, nimmt die Post an, wenn man mal nicht da ist, gießt die Blumen, fütert die
Katze. Und man kann bei ihr auch mal kurz etwas unterstellen. Wenn sie allerd-
ings mürrisch, unlustig und unfreundlich zu Besuchern ist, nützt diese Einrich-
tung bis auf die Postverwahrung, die zu ihren Plichten gehört, recht wenig. Und
in die Wohnung möchte man so jemanden erst recht nicht lassen. Zum Beispiel
Amelia. Amelia ist eine ziemlich böse Hexe, die dann und wann im topolino , wie
die Comichete von Walt Disney auf Italienisch heißen, autaucht. In der
deutschen Fassung heißt diese unsympathische Figur Gundel Gaukelei. Wir hat-
ten also einmal eine nicht sonderlich hilfreiche Portiersfrau, die meine Kinder
gleich am ersten Tag Amelia tauten.
Einmal im Jahr, kurz vor der Weihnachtszeit, setzte sie jedoch zu einem süis-
anten Lächeln an, wenn sie mich über die bevorstehende Segnung der Wohnung
durch den Gemeindepfarrer der nahen Franziskusgemeinde informierte - aber
ich würde ja sicher darauf verzichten wollen. Ich nehme jeden Segen gerne an,
auch den meiner Wohnung durch einen Franziskaner, aber der Pfarrer sollte
schon wissen, dass ich in einer lutherischen Stadt geboren und getaut worden
bin. So hat auch der Pfarrer nie an unserer Wohnungstür geklingelt, Amelia wird
ihn vor den Protestanten gewarnt haben.
Italien ist ein Land, in dem fast neunzig Prozent der Bevölkerung katholisch get-
aut sind. Aber nur noch ein Dritel aller Gläubigen geht regelmäßig einmal in
der Woche zur Messe. Säkularisierung, eine veränderte Sexualmoral und die Kon-
sumorientierung der Gesellschat haben die aktive Teilnahme am Gemeindeleben
zurückgehen lassen. Traditionelle kirchliche Regeln und gesellschatliche
Entwicklungen laufen auch in Italien immer weiter auseinander. Gelegentlich
schützt man sich noch mit einer doppelten Moral, wenn ein Mädchen zum Beis-
piel gemeinsam mit ihrem Freund, ihrem ragazzo , in den Urlaub fährt. Die Eltern
dulden das, erzählen aber, sie sei mit einer Freundin unterwegs. In ärmeren Land-
strichen, wo die katholischen Regeln ungebrochen scheinen, gehört die doppelte
Moral zum Alltag. Und wenn man etwa an das Verschweigen der (Homo-)Sexual-
ität in den eigenen Reihen denkt, ist der Vatikan noch heute ein Hort der Bigot-
terie. Von den Eskapaden eines ehemaligen Ministerpräsidenten ganz zu schwei-
gen…
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