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Eine Frage des Gemeinsinns
Italienern sagt man grundsätzlich ein mangelndes Staatsverständnis nach. Man
traut dem Staat einfach nicht. In einer Umfrage zeigte sich nur knapp die Hälte
der Befragten bereit, Opfer für Staat oder Nation zu bringen. Man traut nur zwei
so unterschiedlichen Organisationen wie der Kirche und den Carabinieri. Lokale
Einrichtungen, wie die Stadtverwaltungen, schneiden gegenüber dem Zentral-
staat, der über Schule, Krankenhaus und Polizei bestimmt, besser ab. Kein Wun-
der also, dass in einigen Gegenden die Idee des Regionalismus immer mehr an
Raum gewinnt. Aber dennoch darf man nicht von mangelndem Staatssinn auf
mangelnden Gemeinsinn schließen.
Die Piazza XXV Aprile in Mailand (der Name erinnert an den Tag der Be-
freiung, als am 25. April 1945 Widerstandsgruppen in die von den Deutschen ger-
äumte Stadt einzogen) wird von einem klassizistischen Stadtor beherrscht, das
unter österreichischer Besatzung gebaut wurde und heute den Namen Porta
Garibaldi trägt. Völlig losgelöst von dieser Szenerie indet man an der Piazza ein-
en Palazzo, der einer kirchlichen Bruderschat (Padri Somaschi) gehört, die das
ehemalige Seminargebäude für eine lächerlich geringe Miete an ein konfessionell
ungebundenes Konsortium von Kooperativen und Sozialunternehmen vermietet
hat. So ist der Palazzo dei Giovani e delle Culture Giovanili, ein Haus der Jugend
und der Jugendkulturen, entstanden. Hier sind unter anderem eine Jugendher-
berge, eine Mensa, ein multikultureller Kindergarten und ein Tagungszentrum
untergebracht. Außerdem gibt es Räume für alle möglichen Aktivitäten im Rah-
men der Sozialarbeit. Die Sozialarbeiter, die hier arbeiten, werden bezahlt. Man
legt Wert darauf, dass es sich hier nicht um volontariato , also um Freiwillige, han-
delt, die neben ihrer Arbeit unentgeltlich hier und da helfen.
In Italien steht ein Heer von rund 2,5 Millionen Freiwilligen (darunter ein
harter Kern von 850000 Personen in 25000 Vereinen) bereit, um segensreich
überall da Löcher zu stopfen, wo der Wohlfahrtsstaat versagt. Allein in der klein-
en Provinz Lucca (Toskana) sind 677 Vereine registriert, in denen sich rund 18000
Menschen engagieren. Volontariato , sagt man im Haus der Jugend, sei nützlich,
doch dürfe die Sozialarbeit kein Almosen bleiben, sondern müsse in der Gesell-
schat verankert sein. Weil Staat, Regionen und Städte kaum Geld und Strukturen
bereitstellen würden, müsse die Gesellschat mit ihren eigenen Miteln tätig wer-
den, und das sei eben die Wirtschatsform eines Unternehmens. Sicher, es han-
dele sich um Non-Proit-Gesellschaten, aber das Ziel sei, Gewinne zu machen,
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