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auf). Vor allem kommen Lidia und ihre Kollegen aber auf aktuelle gesellschat-
liche Fragen zu sprechen. Was im Land eben gerade so diskutiert wird. Zum Beis-
piel das schwierige Zusammenleben nicht verheirateter Paare, die coppie di fato
(faktische Paare) genannt werden. Oder die Rolle der Frauen. Frauen treten in
Italien selbstbewusst in der Öfentlichkeit auf, sind aber in Politik und Wirtschat
total unterrepräsentiert. Als der italienische Staat vor 150 Jahren gegründet
wurde, waren gerade mal 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt, ab
1912 durten alle männlichen Personen über 21 Jahren an die Urnen treten. Das
allgemeine Wahlrecht für Frauen wurde dann erst 1946 im republikanischen Itali-
en eingeführt (in Deutschland 1919).
Von der ersten Stunde an kommen die Schüler mit eigenen Beobachtungen
und Fragen zu Wort. Zum Beispiel wollen sie wissen, warum man in Italien nicht
essen gehen kann, wann man will, die Restaurants und Pizzerien also nicht
durchgehend geöfnet haben und zwischen 15 und 19 Uhr geschlossen bleiben. Je
nachdem, woher sie kommen, wird das Leben in Mailand beispielsweise als
»chaotisch« (etwa von vielen Deutschen) empfunden oder auch als »absolut
ruhig und normal« (etwa von den meisten Brasilianern). Manchmal tauchen
bereits im Vorfeld merkwürdige Anfragen auf. Kürzlich fragte ein Deutscher, ob
es im Land auch 220 Volt Wechselstrom gebe, denn er habe leider keinen Laptop
mit Gleichstromanschluss. Oder ob man in der Schule auch die lateinischen
Schritzeichen benutzen würde, lautete eine andere Anfrage, ebenfalls aus
Deutschland. »Wir schreiben doch nicht mit Hieroglyphen! Denken die, wir
leben hier auf dem Mond?«, schnaubte Lidia wütend, als sie mir die beiden Mails
mit den besorgten Nachfragen zeigte. »Das sind deine Landsleute!« Aber natür-
lich hat sie die Anfragen dann aufs Allerhölichste beantwortet.
Dem Alltagsleben, so wie es im Unterricht thematisiert wird, mangelt es nicht
an Merkwürdigkeiten. Am Monte Rosa zum Beispiel (mit rund 4600 Meter nach
dem Monte Bianco/Mont Blanc der zweithöchste Alpengipfel in Italien) sind die
Goldgräber zurückgekehrt und haben bei dem Ort Macugnaga längst verschütete
Minen wieder freigelegt. Ist das ein Zeichen der Wirtschatskrise oder nur ein
geschicktes Mitel, um Touristen anzulocken? Überhaupt kommt das Alte wieder
in Mode, das Boccia-Spiel zum Beispiel. In Norditalien spielen das nicht nur Rent-
ner zum Zeitvertreib, sondern neuerdings schieben gerade Zwanzig- und
Dreißigjährige eine ruhige Kugel zur abendlichen Entspannung nach der hekt-
ischen Arbeit. Alte Gebäude werden umfunktioniert. Auf Sardinien etwa wan-
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