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unterstreicht, zusätzlich zum bestehenden EU-Kommis-
sariat für Entwicklung, die Bedeutung humanitärer
Hilfe in der EU-Außenpolitik. Das große Budget, der
fortlaufende Ausbau der humanitären Institutionen
sowie die starke Präsenz in den „Krisenregionen“ der
Erde haben die EU, neben anderen wichtigen Geldge-
bern wie den USA und Japan, zu einer bestimmenden
Größe in der internationalen Gebergemeinschaft ge-
macht.
Wie stellt die EU die Motivation für ihre weltweite
Präsenz und das humanitäre Handeln dar? In EU-
Dokumenten ist von einer „globalen Verantwortung für
Menschen in Not“, der „moralischen Pflicht zu helfen“
und der Verbreitung der „europäischen Werte Freiheit,
Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ die
Rede. Gemäß einer Umfrage des Eurobarometers 2010
stehen auch die Bürger der EU hinter der humanitären
Idee: 79 Prozent der Befragten glauben an die Bedeu-
tung humanitärer Hilfe außerhalb der EU-Grenzen,
wohingegen nur 43 Prozent wissen, dass solche Hilfe
bereits finanziert wird (Europäische Kommission 2010).
Im Selbstbild sehen sich die humanitären EU-Institutio-
nen als weitgehend fair und rasch reagierend. Jedoch
zeichnen kritische Beobachter ein anderes Bild: Dem-
nach seien die humanitären Aktionen der EU zu lang-
sam sowie mit hohem administrativen Aufwand und
großen Transaktionskosten verbunden. Zudem werde
das erklärte Ziel der Armutsbekämpfung nur unzurei-
chend angegangen, da 2010 nur 46 Prozent des Entwick-
lungsetats für low income countries vorgesehen waren
(OpenEurope 2011), während der Großteil deutlich bes-
ser gestellte middle income countries erreicht habe (Hol-
den 2009). Das Gefühl der Verantwortung scheint also
besonders ausgeprägt für Nachbarn und „alte Bekannte“
aus der Kolonialzeit zu sein, sodass der EU zuweilen
eine neokoloniale Agenda vorgeworfen wird. Tatsächlich
ist die Entwicklungspolitik der EU stark durch nachbar-
schaftliche Verflechtungen und Beziehungen zu ehema-
ligen Kolonien einiger Mitgliedsstaaten geprägt, was die
Richtung eines Großteils der Hilfsgelder vorzeichnet:
Projekte in der Türkei und im Rahmen der Euro-Medi-
terranen Partnerschaft sind Beispiele hierfür.
Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe
sind nicht unumstritten. Während die Europäische
Kommission von einer „klugen Zukunftsinvestition“
und der Förderung eines „breitenwirksamen Wachstums
und einer nachhaltigen Entwicklung in den Partnerlän-
dern“ (Europäische Kommission 2011) spricht, stellen
entwicklungskritische Beobachter die Frage, ob huma-
nitäre Sorge und europäischer Werteexport die einzigen
Beweggründe für das europäische Engagement sind.
Schließlich gelangen durch die Helfer des humanitären
Business auch wirtschaftliche Akteure und politische
Ideen in „Krisenregionen“. Dabei ist humanitäre Hilfe
oft der erste Schritt, auf den bald längerfristige Projekte
der Entwicklungszusammenarbeit folgen. Patrick Hol-
den (2009) kommt bei seiner Betrachtung der europä-
ischen global aid policy zu dem Schluss, dass die Ent-
wicklungspolitik der EU der Verwirklichung politischer
und ökonomischer Ziele mit geographischer Priorität
für die nähere Umgebung diene. Die EU könne so güns-
tige Rahmenbedingungen in den Empfängerländern für
europäische Unternehmen schaffen. Die globalisie-
rungskritische Journalistin Naomi Klein argumentiert
in ihrer These des Katastrophenkapitalismus - Wieder-
aufbau zerstörter Regionen nach demokratischen und
marktoffenen Grundprinzipien -, dass viele Akteure im
Nachspiel von Katastrophen Interesse am Wiederaufbau
von „Krisengebieten“ hätten, da dieser eine komplette
Neugestaltung nach eigenen Vorstellungen ermögliche:
„[There is a] rise of a predatory form of disaster capitalism
that uses the desperation and fear created by catastrophe to
engage in radical social and economic engineering“ (Klein
2005). Die Vorwürfe aus entwicklungskritischer Per-
spektive reichen von den Argumenten der Post-Deve-
lopment-Ansätze, welche die „Vorbildfunktion“ des
Westens infrage stellen, über antiimperialistische Kritik,
die Entwicklungspolitik als Kolonialismus mit anderen
Mitteln versteht, bis hin zum Vorwurf der Übergewich-
tung politischer und wirtschaftlicher Interessen (Rauch
2009). Auch der Entwicklungspolitik der EU kann aus
kritischer Perspektive die strategische politische Beein-
flussung und wirtschaftlicher Opportunismus nach Ka-
tastrophen vorgeworfen werden. Demnach prägt die
globale Präsenz nicht nur die Empfänger der Hilfsmaß-
nahmen politisch, sondern dient dazu, sie langfristig in
den wirtschaftlichen Orbit der EU hineinzuziehen und
nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Das
„humanitäre Päckchen“ der Geberländer ist nicht selten
an zahlreiche Bedingungen geknüpft, die lokale Struktu-
ren in „Krisengebieten“ nachhaltig beeinflussen, mit
EU-Richtlinien und einer ganz eigenen Agenda versehen
sind und lokale Eliten (durch Kooperation mit NGOs)
schaffen. Wer im humanitären Business über weniger
Macht verfügt, muss sich den Vorgaben machtvoller
Agenda-Setter wie der EU beugen und kann mitunter
ganz von Entscheidungen ausgeschlossen werden.
Bei der Betrachtung von Entwicklungszusammenar-
beit und der Schaffung humanitärer Räume ergibt sich
eine Vielzahl geographischer Fragestellungen - schließ-
lich sind Kontexte der humanitären Hilfe oft Konflikte
um Raum und Macht, um Dominanz und Abhängigkeit,
um Aufmerksamkeit und Marginalisierung sowie um
die selektive Inklusion humanitärer Akteure in Ent-
scheidungsprozesse. Eine geographische Betrachtung
von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenar-
beit sollte diese kritisch hinterfragen - schließlich ereig-
nen sich weder Naturkatastrophen noch Konflikte in
einem politischen Vakuum; internationale Antworten
darauf sind von geopolitischen Designs und strategi-
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