Geography Reference
In-Depth Information
In geographischer Hinsicht entwickelte Europa einen
spezifischen Blick auf die Welt, Raumvorstellungen und
Raumdeutungen, welche nach Agnew & Corbridge
(1995) auf vier Fundamenten ruhen:
Aus dem ersten abgeleitet ist das zweite Fundament
der modernen geopolitischen Imagination, die trans-
lation of time into space . Das zeitliche Nacheinander
einer kontingenten Welt wird übersetzt in eine räum-
liche Gleichzeitigkeit, die Welt lässt sich nunmehr
einteilen in primitive und moderne Regionen, unter-
entwickelte und fortschrittliche Gesellschaften, was
sich bis heute in Begriffen wie „Entwicklungsländer“
oder „Schwellenländer“ widerspiegelt.
Sehen-der-Welt-als-Ganzes, global geographical visu-
alization - Im Kontext der europäischen „Entde-
ckung“ der Welt und der Entstehung der modernen
Wissenschaft wird die eigene Position gleichsam als
view from nowhere empfunden, als objektiv. Und die
globale Welt lässt sich dann auch in klar trennbare
und hierarchisierbare Orte und Räume aufteilen, und
diese Räume lassen sich mit „Etiketten“, also einem
„Label“ versehen.
Das dritte Fundament beruht auf der sich seit der
Französischen Revolution ausbreitenden Vorstellung
vom Nationalstaat, das heißt der Idee, eine fort-
schrittliche Welt beruhe auf klar voneinander abge-
Exkurs 8.1
Die „Entschleierung“ der Erde aus europäischer Sicht
Im Jahr 1948 legte der Frankfurter Geograph Walter Behr-
mann eine Publikation mit dem Titel „Die Entschleierung
der Erde“ vor, deren Karten und Texte in der Folgezeit auch
Eingang in die meisten Schul- und Weltatlanten (z. B. den
Bertelsmann Weltatlas) fanden und die damit zum „Allge-
mein wissen“ von Schülern und interessierten Laien wurden.
Für seine erste historische Phase um 400 v. Chr. be-
zeichnet Behrmann 6,1 Prozent der Welt als „entschleiert“,
worunter er den Mittelmeerraum und die Kernräume der
alten Kulturräume im Vorderen Orient, das Zweistromland
und das Niltal, versteht. Bis 200 n. Chr. vergrößerte sich
dieser Raum auf das Gebiet des Römischen Reichs zur Zeit
seiner größten Entfaltung (inkl. Germaniens und der Briti-
schen Inseln), auf die Arabische Halbinsel, Zentralasien und
das Gebiet Indiens sowie der vorgelagerten Inseln. Bis zum
Jahr 1500 kamen aufgrund der Reisen Marco Polos erste
Kenntnisse des chinesischen Reiches hinzu, kurz darauf
waren die Küstenräume der Neuen Welt (Nord- und Süd-
amerika) sowie zahlreiche Küsten Afrikas bekannt, bis 1550
war die südostasiatische Inselwelt hinzugekommen und im
Jahr 1600 war knapp die Hälfte der Erdoberfläche den Euro-
päern bekannt. Mit der kolonialen Erschließung Sibiriens
und der sukzessiven Durchdringung der beiden Amerika
waren um 1800 60 Prozent der Landfläche und 82 Prozent
der Erdoberfläche den Europäern bekannt und um 1900 wa-
ren nur noch wenige Binnenregionen in den Tropen sowie
die Polarregionen nicht von Europäern bereist worden.
Aus heutiger Sicht ist an Behrmanns Karten und Termi-
nologie natürlich vor allem bemerkenswert, dass dieser
„Schleier“, der da sukzessive von der Neuen Welt und von
Ostasien weggezogen wurde, über diesen Kontinenten
natürlich nur aus europäischer Sicht gelegen hatte. Chine-
sen, Mongolen und Indianer konnten sich ja nicht selbst
„entschleiern“. Das in Wissenschaft, Kunst und Politik sich
entfaltende Weltbild war bis ins 20. Jahrhundert hinein
selbstverständlich eurozentrisch, Bilder von der Welt wur-
den aus europäischer Perspektive konstruiert.
[Mio. km 2 ]
510
500
Tibet
gesamte Erdoberfläche
Polargebiete
Inner-Afrika
McClure
Humboldt
400
Cook
361
Wasser
Bering
Tasman
300
Kosaken
Baffin
Le Maire, Schouten
Drake
200
Orellana
149
Land
Magellan
Vasco da Gama
100
Kolumbus
Marco Polo
Normannen
Erdo berflä che
0
400 v. Chr.
0
200 n. Chr.
1000
Abb. 1 Die Entschleierung der Erde (verändert nach: Geb-
hardt 2003).
 
Search WWH ::




Custom Search