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Kapitel 8
Konkurrenz für Europa -
die Zukunft in einer
globalisierten Welt
Hans Gebhardt
Europas Rolle in der Welt war immer eine ambivalente. Theodor W. Adorno spricht dia-
lektisch von einer „grausamen Modernisierung“. Dass die europäische Moderne immer
zwei Seiten gehabt habe, wurde von ihm und Max Horkheimer in der „Dialektik der Auf-
klärung“ eindrucksvoll herausgearbeitet (Horkheimer & Adorno 1969). Die Ambivalenz
von Modernisierung und Barbarei fand im Nationalsozialismus und seinen industriellen
Tötungsmaschinen ihren schrecklichsten Ausdruck. Auf die Doppelgesichtigkeit von
Moderne und Barbarei verweist auch Luciana Castellina in ihrer Rückschau auf „Fünfzig
Jahre Europa“ (Castellina 2007).
In jüngerer Zeit ist häufig die Rede davon, dass „Europa seine Politik und seine Han-
delsinteressen mit grausamer Skrupellosigkeit durchsetzte und dabei in unterschied-
lichem Namen verschiedenste Formen von Sklaverei über das Antlitz der Erde ver-
breitete“ (Korf 2009), andererseits aber zugleich - in Form der Aufklärung und seiner
Philosophie - die Waffen gegen europäische Ungerechtigkeiten, die Kritik an den kolo-
nialen Zuständen mitgeliefert hat. Oder in den Worten von Dipesh Chakrabarty: „When
European power became imperial-colonial ‚lords of the humankind' from the period of the
Renaissance to that of the Enlightenment and into the nineteenth century, they also gave
their victims the terms and categories of thought with which to critique and challenge
European domination. Two such great ‚weapons of criticism' forged in the European
workshop of the nineteenth century - but with their intellectual genealogies stretching
further back into history - were Marxism and Liberalism, both wielded with great effect by
many decolonizing nations and thinkers who criticized European domination“ (Chakra-
barty 2009). In Europa lebte immer ein Protest gegen seine eigenen Ungerechtigkeiten,
eine Haltung, welche sich bei den künftigen Großmächten dieser Erde - China, Indien,
Brasilien - erst noch manifestieren muss. In jedem Fall liegt die Neue Welt des 21. Jahr-
hunderts nicht mehr in Europa und auch nicht in den USA; welche Folgen der „Aufstieg
der Anderen“ (Zakaria 2008) im postamerikanischen Zeitalter haben wird und was dies
für Europa bedeutet, darüber kann derzeit prächtig spekuliert werden. Zakaria vertritt
hier die amerikanische, optimistische Meinung, dass ökonomische und politische Global
Player wie Indien, China, Brasilien zwar immer bedeutender werden, ideologisch gese-
hen jedoch bleibe amerikanische Macht (und das europäische Modell) nach wie vor
wichtig.
Wenn man Europa nicht nur aus europäischer Perspektive betrachtet, sondern auch
mit den Augen der „Anderen“, dann kann man mit Chakrabarty feststellen, dass die
unterschiedlichen Europas, die in den verschiedenen Teilen der Welt in den Köpfen exis-
tieren, in einer Beziehung zueinander stehen. Man kann die positiven Errungenschaften
Europas heutzutage nicht mehr von seinen dunkleren Seiten trennen, die Geschichte
der europäischen Renaissance und Aufklärung nicht mehr unabhängig von der Ge-
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