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In der Tat hatte die Einführung der Eisenbahn aber
auch weitreichende Folgen für die Organisation des
Lebens in ganz Europa. So erzwang der Eisenbahnbe-
trieb eine einheitliche europäische Zeit, gab es doch bis-
her verschiedenste Ortszeiten, zurückgehend auf die
Messung des Sonnenstandes an den einzelnen Orten,
was aufwendige Angleichungen an Grenzübergängen
notwendig machte. In Regionen, in denen verschiedene
Länder aneinandergrenzten, wie beispielsweise am
Bodensee, war dies von großer Bedeutung. So war es,
während es in Bregenz (Österreich-Ungarn) 12:00 Uhr
schlug, in Romanshorn (Schweiz) 11:32 Uhr, in Lindau
(Bayern) 11:49 Uhr, in Friedrichshafen (Württemberg)
11:39 Uhr und in Konstanz (Baden) 11:36 Uhr (Knittel
2003). Insofern begann mit der Einführung der Eisen-
bahn nicht nur im übertragenen, sondern auch im wort-
wörtlichen Sinne eine neue Zeitrechnung.
Hannover-Würzburg seinen Betrieb aufgenommen
(Ellwanger 2001, Kurz 2009).
Der Fall des sogenannten „Eisernen Vorhangs“ Ende
der 1980er-Jahre führte dazu, dass Europa in dieser frü-
hen Phase des Hochgeschwindigkeitsverkehrs völlig
neue politische Ausmaße annahm. Für die Entwicklung
des Konzeptes eines Transeuropäischen Verkehrsnetzes
(TEN-V) durch die Europäische Union war dies ein ent-
scheidender Impuls. Ziel dieses Netzkonzeptes ist es,
wieder mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu
verlagern und damit eine Trendwende in der Entwick-
lung des Modal Split herbeizuführen (Hesse & Neiber-
ger 2010). Zu diesem Zweck beschloss die EU Anfang
der 1990er-Jahre, den Ausbau der wichtigsten Verkehrs-
verbindungen innerhalb der Mitgliedsstaaten aus ge-
samteuropäischer Sicht zu planen und mit ursprünglich
angedachten 70 Milliarden Euro zu fördern (Amtsblatt
der Europäischen Gemeinschaft 1996, Fromhold-Eise-
bith 1994). Im Jahr 2004 wurden die Leitlinien des Kon-
zeptes noch einmal überarbeitet, um aufgrund der
zunehmenden Verkehrsüberlastung und steigender
externer Kosten des Verkehrs eine Verlagerung auf alter-
native Verkehrsträger verstärkt voranzutreiben. Deshalb
umfasst das TEN-V-Konzept nach ursprünglich 14 nun-
mehr 30 Projekte, die bis 2020 vollendet sein sollen;
davon betreffen 14 Projekte ganz oder teilweise den
Hochgeschwindigkeitsverkehr (Europäische Kommis-
sion 2005; Abb. 7.25).
Als Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV)
bezeichnet man in der Regel den fahrplanmäßigen Ein-
satz von Zügen mit Geschwindigkeiten von über
200 Stundenkilometern. Die eingesetzten Hochge-
schwindigkeitszüge können dabei in zwei Kategorien
unterteilt werden. Dies sind zum einen Züge mit
Höchstgeschwindigkeiten bis über 300 Stundenkilome-
ter, für deren Einsatz Schnellfahrstrecken mit großen
Kurvenradien benötigt werden (z. B. die „normalen“
Serien des TGV, ICE, AVE; Abb. 7.26), zum anderen
Züge mit meist geringerer Höchstgeschwindigkeit, die
aber dafür mit Neigetechnik ausgestattet sind, um auf
dem bestehenden, kurvigen Streckennetz höhere Ge-
schwindigkeiten zu ermöglichen (z. B. ICE-T).
Das angestrebte europäische Hochgeschwindigkeits-
netz zeichnet sich nicht durch eine völlige Neukonzep-
tion des Netzes bis hin zur Technik aus (was beispiels-
weise bei der Einführung des Transrapid der Fall
gewesen wäre), sondern durch eine Verbindung und
Optimierung nationaler Strecken und Konzepte. Hierzu
wird in der Theorie wie in der Umsetzung der Bau neuer
Verbindungen für den Hochgeschwindigkeitsverkehr
(sog. Neubaustrecken) bevorzugt, ergänzend werden
aber auch bestehende Strecken modernisiert und so aus-
gebaut, dass entsprechende Züge diese mit hohen Ge-
schwindigkeiten befahren können (sog. Ausbaustrecken;
Abb. 7.25).
Hochgeschwindigkeitsschienennetze
im 21. Jahrhundert
Malte Horrer und Cordula Neiberger
Als der legendäre Orient-Express 1883 erstmals den
Pariser Bahnhof Gare de Strasbourg in Richtung Buda-
pest verließ, war er vermutlich das mit Abstand schnell-
ste und luxuriöseste Verkehrsmittel auf dieser Strecke
(Sölch 1983). Postkutschen hatten eine Reisegeschwin-
digkeit von etwa 10 Stundenkilometern, die Luftfahrt
war noch Jahre von der Aufnahme eines Passagierbetrie-
bes entfernt. Nur mit der Eisenbahn durchquerte und
erreichte man in kurzer Zeit zahlreiche fremde Land-
schaften und Kulturräume.
Jahrzehnte blieb die Eisenbahn in Europa das wich-
tigste Verkehrsmittel. Seit der Nachkriegszeit allerdings
entwickelte sich der Modal Split des Personenverkehrs in
allen Ländern Europas zugunsten des Straßenverkehrs.
Heute liegt dessen Anteil in den meisten Staaten bei etwa
75 Prozent (Abb. 7.19).
Die Infrastrukturpolitik hat diesen Trend maßgeb-
lich unterstützt: So wurde der Ausbau von Autobahnen
und autogerechten Städten vorangetrieben, während
das Streckennetz der Eisenbahn stagnierte bzw. in der
Fläche abgebaut wurde. Mit zunehmender umweltpoli-
tischer Sensibilität von Bevölkerung und Politik erfuhr
die Schiene seit Ende der 1980er-Jahre jedoch wieder
mehr Aufmerksamkeit von nationaler politischer Seite,
die nun eine verstärkte Förderung betrieb.
Die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke in Europa
wurde 1981 in Frankreich von Paris nach Lyon mit dem
TGV eröffnet. In Italien fährt seit 1988 der erste Hoch-
geschwindigkeitszug auf der Strecke Florenz-Rom. In
Deutschland hat der Intercity-Express (ICE) 1991 zwi-
schen Hamburg und München über die Neubaustrecke
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