Geography Reference
In-Depth Information
Exkurs 7.6
Neue Formen der Gesundheitsversorgung
Ines Krumm
Im ländlichen Raum Europas erschweren die geringe Bevöl-
kerungsdichte und disperse Siedlungsstrukturen mit weni-
gen Zentren die medizinische Versorgung. Dazu kommen
unattraktive Bedingungen für niedergelassene Ärzte. Physi-
sche Hindernisse, wie Berge oder Insellagen, stellen wei-
tere Probleme dar. Ambulante und stationäre Einrichtungen
sind oft weit von den Patienten entfernt und schlecht zu-
gänglich. Die erwarteten demografischen Schrumpfungs-
und Alterungsprozesse werden die bestehenden Versor-
gungsdefizite verschärfen. In vielen Regionen sinkt die
Hausarztdichte, und Spezialeinrichtungen sowie Fachärzte
werden nicht mehr ausgelastet. Zwei Ansätze zur Neukon-
zeption der regionalen Gesundheitsversorgung in den
betroffenen Gebieten können unterschieden werden:
Erstens wird die (steigende) Distanz zwischen Patient
und dem medizinischen Angebot zunehmend durch Infor-
mations- und Kommunikationstechnologien, also virtuell,
überwunden. Das 1997 gestartete Projekt TelLappi in Finn-
land zum Beispiel nutzt die Möglichkeiten der Telemedizin
durch eine Vernetzung von Ärzten, Gesundheitszentren und
Universitätskliniken. Im Gesundheitsbezirk Lappland mit
1,4 Einwohnern pro Quadratkilometern und einer Nord-
Süd-Ausdehnung von 500 Kilometern sind so Videosprech-
stunden, Ferndiagnosen und die Überwachung von Risiko-
patienten in deren Zuhause möglich. Bei Bewohnern der
Äußeren Hebriden (Schottland) mit Rachen- und Stimmban-
derkrankungen führt ein geschulter Sprachtherapeut vor
Ort eine Endoskopie durch. Sie wird in Echtzeit an einen
Spezialisten auf dem schottischen Festland übertragen, der
die Diagnose stellt. Durch das Netzwerk Alpine Hospitals
Networking for Improved Access to Telemedicine Services
von sechs Alpenanrainerstaaten kann bei den vielen Wan-
der- und Skiunfällen in der Tourismussaison trotz der gro-
ßen Entfernungen schnell ein Spezialist herangezogen wer-
den. In der schwedischen Provinz Västerbotten wurde das
Krankenhaus Tärnaby mit dem 350 Kilometer entfernten
Hauptkrankenhaus vernetzt. Den Patienten wird dadurch
der Weg zur Untersuchung erspart. Die Zahl der Fahrten
sank um 40 Prozent. In Schweden wurden auch gute Erfah-
rungen mit Physiotherapie per Videokonferenz gemacht.
Der Patient muss den schwer erreichbaren Therapeuten
nicht aufsuchen, die Motivation steigt durch den Sichtkont-
akt und Fehler können korrigiert werden.
Zweitens nutzen neue Organisationsformen Synergie-
effekte und lösen unflexible Infrastrukturen ab. Eine Alter-
native zur virtuellen Überbrückung großer Distanzen wird
zum Beispiel in Portugal erprobt. In den schlecht angebun-
denen Bergregionen Montemuro, Arada und Gralheira leben
viele alte Menschen. Deshalb gibt es seit 2005 zu mobilen
Praxen umgerüstete Fahrzeuge, die Patienten an ihren
Wohnorten aufsuchen und eine medizinische Grundversor-
gung anbieten. Das Problem langer Fahrzeiten in den Pyre-
näen soll ein grenzüberschreitendes Krankenhaus lösen.
Für 2012 ist die Eröffnung einer Klinik mit 68 Betten in Puig-
cerdà geplant, die als spanisch-französische Einrichtung
getragen und so rentabel betrieben werden soll. Ein Kon-
zept, das international erprobt wird, ist die Einrichtung von
Versorgungszentren, die mehrere Praxen zusammenfassen.
Technische Einrichtungen und Personal können so effektiv
eingesetzt und die Arbeitszeiten der Mediziner angenehmer
gestaltet werden. In Mecklenburg-Vorpommern wurden
Hausärztliche Versorgungszentren, in der französischen
Region Franche-Comté an Krankenhäuser angegliederte
Maison Médicales eingeführt. Auch Zweigpraxen, die in Teil-
zeit betrieben werden, können lokale Defizite beheben. Das
deutsche Modellprojekt „Gemeindeschwester Agnes“ und
die Einführung des Berufs des Nurse Practitioner im Ver-
einigten Königreich zielen darauf ab, Ärzte bei Routinebe-
handlungen durch speziell geschulte Fachkräfte zu entlas-
ten. Sie übernehmen zum Beispiel Hausbesuche.
Die beiden vorgestellten Ansätze schließen sich dabei
nicht aus, sondern ergänzen sich in vielen Projekten effek-
tiv.
das Brandon Healthy Living Centre (Großbritannien)
oder der Dorfladen „DORV“ in Jülich-Barmen. In
Frankreich wurde eigens für Multiservice-Läden ein
nationales Qualitätssiegel ( Villages de France, Commer-
ces Multi-Services ) entwickelt, um ein gemeinsames Netz
aufzubauen und die Verhandlungen mit staatlichen und
privaten Partnern zu unterstützen. Andere Modelle sind
die Mobilisierung der Dienstleistungen. So finden sich
europaweit mobile Büchereien, mobile Lebensmittelge-
schäfte (Abb. 7.15), mobile Dienstleister (z. B. Frisöre)
oder auch mobile Bank- und Postfilialen.
In manchen europäischen Ländern ist der Schulweg
für die Schüler durch die Entfernung nicht zu schaffen.
Daher gibt es hier an einigen Orten die Entwicklung von
Teleschulen (z. B. für die Schüler der kleinen Ägäis-Insel
Pserimos, Griechenland), um die Schule zu den Kindern
zu bringen. Die Kinder lernen von zu Hause aus. So
kann man fehlender schulischer Infrastruktur im länd-
Search WWH ::




Custom Search