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Lebensstile in ländlichen Räumen
Europas
Annette Spellerberg
Land-Kontinuum ausgegangen werden sollte bzw. von
den jeweils spezifischen Eigenarten beider Siedlungsty-
pen. Zudem variiert der Stadt-Land-Unterschied in den
jeweiligen Ländern in spezifischer Weise.
Lebensstile
Werthaltungen, Kontakte und Religiosität
in den Dörfern Europas
Fragen der Lebensführung und des Lebensstils sind im
Alltag der Menschen von großer Bedeutung, denn der
individuelle Lebenslauf erscheint gestaltbar und die Sti-
lisierungsmöglichkeiten haben sich enorm ausgedehnt.
Mithilfe von Lebensstilen ordnen sich Menschen be-
stimmten Gruppen zu und grenzen sich zugleich von
anderen ab. Lebensstile als gruppenspezifische, expres-
sive Verhaltensweisen sind einerseits Ausdruck der so-
zialen und materiellen Lage und der biographischen
Erfahrungen, andererseits Resultat von Lebenshaltun-
gen, Lebensplänen und Gestaltungsleistungen.
In diesem Abschnitt wird empirisch ermittelt, inwie-
weit sich städtisches und ländliches Leben in den Län-
dern der EU unterscheidet. Bereits Georg Simmel und
Ferdinand Tönnies haben die weithin bekannten
Gegensatzpaare zwischen Stadt und Dorf formuliert
(Simmel 1903, Tönnies1887): Städter seien blasiert und
reserviert, um die vielfältigen sozialen Kontakte verar-
beiten zu können, aber auch frei in ihrer Persönlich-
keitsentfaltung und Kreativität. Dörfer wurden charak-
terisiert als homogene Dorfgemeinschaften, in denen
ein starkes „Wir-Gefühl“, traditionelle Wertorientierun-
gen und eine wechselseitige soziale Kontrolle herrschten,
die eine soziale Ausdifferenzierung verhinderten.
Das bäuerliche Leben hat in den weit entwickelten
Ländern auch auf den Dörfern kaum noch eine Bedeu-
tung. Allerdings bleiben bei Bauern im Bereich von All-
tagskultur und Freizeitverhalten traditionelle Muster
deutlich sichtbar, denn die soziale Gruppenzugehörig-
keit, die naturnahen Arbeitsbedingungen, die „Unent-
rinnbarkeit“ von Haus und Hof schnüren einen Alltag,
der wenige Variationsspielräume zulässt. Neben den tra-
ditionellen Alteingessenen wohnen in Dörfern zuneh-
mend Personen mit hohen Freizeitansprüchen und
einem Lebensstil, der als „ländliche Moderne“ bezeich-
net werden kann. Weitere Gruppen bilden Personen mit
kritischer oder avantgardistischer Haltung, die etwa
Bürgerinitiativen bilden, neue Arbeitsplätze schaffen
und Kneipen und Direktvermarktung betreiben, und
solche, die ausgegrenzt sind oder sich selbst isolieren,
zum Beispiel in spezifischen (auch religiös geprägten)
Milieu-Treffpunkten.
Angesichts des geringen Anteils von landwirtschaft-
lich Beschäftigten, der Automobilisierung, Zu- und
Wegzügen sowie Individualisierungsprozessen hat eine
Modernisierung des Dorflebens stattgefunden. Vorstel-
lungen einer Polarisierung von Stadt und Land erschei-
nen nicht mehr angemessen, sodass von einem Stadt-
Auf Basis des European Social Survey von 2008 wird
beispielhaft analysiert, wie sich die Werthaltungen der
Menschen in ländlichen Regionen Europas unterschei-
den und ob Stadt-Land-Unterschiede feststellbar sind.
Es handelt sich um eine Umfrage in mehr als 30 Ländern
und mit mehr als 55 000 Befragten sowie Indikatoren,
die für dörfliches Leben typisch sein sollen: sich ange-
passt verhalten, (geringeres) politisches Interesse, Kon-
takthäufigkeit und Religiosität. Aus Abbildung 7.13 ist
abzulesen, dass in jedem Land statistisch signifikante
Differenzen zwischen Dorfbewohnern und Großstäd-
tern existieren, dass die Muster aber für jede betrachtete
Dimension sehr unterschiedlich sind.
Konformes Verhalten
Sich konform zu verhalten, ist für Dorfbewohner des
südlichen Europas alles in allem deutlich wichtiger als in
den nördlichen und westlichen Ländern. Die Stadt-
Land-Differenzen sind dabei auch in solchen Ländern
hoch signifikant, bei denen angepasstes Verhalten mehr-
heitlich nicht für wichtig erachtet wird, zum Beispiel in
Deutschland und Portugal. Die Tendenzen weisen in die
gleiche Richtung, auf dem Land wird Konformität für
wichtiger erachtet als in den Großstädten. Hoch signifi-
kante Unterschiede zwischen Großstädtern und Dorfbe-
wohnern zeigen sich jedoch lediglich in sechs Ländern.
Kontakthäufigkeit
Die Kontakthäufigkeit ist in Mittelmeerländern, aber
auch in nördlichen Ländern Europas besonders stark
ausgeprägt (mehrmals in der Woche bzw. jeden Tag
Freunde, Verwandte oder Kollegen treffen): Kroatien,
Spanien, Portugal, Norwegen und die Niederlande füh-
ren die Liste an. Dabei ist der Kontakt in einigen Län-
dern in Großstädten dichter als in Dörfern, meist sind
die Dorfbewohner aber geselliger als die Stadtbewohner.
Insgesamt sind in zehn Ländern diese Unterschiede sehr
deutlich sichtbar.
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